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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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blinde König, aber an der obersten Stufe schwenkte er geschickt auf dem Absatz herum, ehe er sich an den Abstieg machte. Viele Türme in Qul-na-Qar hatten Treppen, die leise Musik von sich gaben, und natürlich stöhnten und jammerten die berüchtigten Stufen des Hohen Orts leise wie Kinder in unruhigem Schlaf, aber von der Treppe des Wolkengeistturms kam kein Laut außer dem Trittgeräusch desjenigen, der sie beging. Ynnir lauschte den samtweichen Schritten seines Ratgebers, die immer leiser wurden, bis er sie über dem Pfeifen des Windes nicht mehr hören konnte.
    Ynnir din'at sen-Qin trat durch eine Tür in der Wand, die diesen höchstgelegenen Teil des Turms in zwei Räume unterteilte. Das andere Turmzimmer, der Zwilling des ersten, hatte ein eigenes Fenster, das jedoch nicht auf die riesige Festung und ihre zahllosen, wie Steine am Meeresstrand glänzenden Dächer hinaus ging, sondern zum nebligen Süden hin — in Richtung der Schattengrenze, des mächtigen Heerzugs, den Yasammez führte, und der Menschenlande. Genau wie der andere Raum, war auch dieser karg möbliert. Drüben gab es einen Sessel, hier ein niedriges Bett. Der König legte sich darauf, ein blaßlila Funkeln über der Stirn, verschränkte die Arme auf der Brust und begann zu träumen.

    Chert hatte kaum geschlafen. Die langen Nachtstunden erschienen ihm wie Gäste, die spürten, daß sie nicht willkommen waren, und deshalb erst recht nicht wieder gehen wollten.
    Wir stecken in etwas Schlimmem.
Es drängte sich in jeden seiner Gedanken. Zum erstenmal verstand er, was die Großwüchsigen meinten, wenn sie ihn fragten, wie er es aushalte, in einer unterirdischen Höhle zu leben. Aber es war nicht der Fels der Funderlingsstadt, der bedrückte ihn so wenig wie einen Fisch das Wasser. Es war das Gefühl, daß er und seine kleine Familie von einem gesichtslosen, unsichtbaren
Etwas
umgeben und umsponnen waren, und gerade weil er nicht wußte, was es war, fühlte er sich so elend und hilflos.
Wir stecken in etwas Schlimmem, und es wird immer schlimmer.
    »Was im Namen der Mysterien treibst du da?« Opalias Stimme war schlafbenebelt. »Du hast dich die ganze Nacht herumgeworfen.«
    Er war versucht, ihr zu sagen, es sei gar nichts, aber trotz ihrer gelegentlichen Zankereien gehörte Chert nicht zu den Männern, die sich in Gesellschaft anderer Männer wohler fühlten als mit der eigenen Frau. Sie waren einen weiten Weg gemeinsam gegangen, und er wußte, er brauchte nicht nur ihren Trost und ihre Wärme, sondern auch ihren Verstand. »Ich kann nicht schlafen, Opalia. Ich mache mir Sorgen.«
    »Weswegen?« Sie setzte sich auf und strich sich die Haarsträhnen zurück, die unter ihrer Nachtmütze hervorgequollen waren. »Und sprich nicht so laut — du weckst den Jungen.«
    »Der Junge ist Teil dessen, was mir Sorgen macht.« Er stand auf, ging auf bloßen Füßen zum Tisch und nahm den Weinkrug an sich. Funderlinge benutzten in ihren Häusern selten Lampen; sie begnügten sich mit dem wenigen schummrigen Licht, das von den Straßenlaternen hereindrang, und fanden es lustig, daß die Großwüchsigen anscheinend nicht ohne eine regelrechte Festtagsbeleuchtung über der Erde herumtrapsen konnten. Er nahm einen Becher vom Kaminsims. »Möchtest du ein bißchen Wein?« fragte er seine Frau.
    »Seit wann möchte ich um diese Zeit Wein?« Aber ihre Stimme klang jetzt ebenso beunruhigt wie seine. »Chert, was macht dir Sorgen?«
    »Ich weiß nicht genau. Irgendwie alles. Der Junge, diese Dachlinge, das, was Chaven über die Schattengrenze gesagt hat.« Er kam mit seinem Becher Wein ins Bett zurück und steckte die Beine unter das dicke Federbett. »Es war nicht einfach nur Zufall, daß der Junge aufgetaucht ist, Opalia. Daß er genau an dem Tag dort herausgebracht und auf unserer Seite abgelegt wurde, an dem ich entdeckt habe, daß sich die Schattengrenze zum ersten Mal seit Ewigkeiten verschoben hat.«
    »Da kann doch der Junge nichts dafür!« sagte sie, und trotz ihrer Ermahnung, leise zu sein, wurde ihre eigene Stimme immer lauter. »Er hat nichts Unrechtes getan. Als nächstes sagst du noch, er ist irgendein ... Spion oder Dämon oder ... oder ein verkleideter Zauberer.«
    »Ich weiß nicht, was er ist. Ich weiß nur, daß ich nicht noch eine Nacht damit zubringen will, mich zu fragen, was in dem Säckchen ist, das er um den Hals hat.«
    »Chert, das darfst du nicht. Wir haben kein Recht ...!«
    »Das ist doch Unsinn, Frau, und das weißt du selbst. Das hier

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