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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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sie atmete, leicht berauschte, was viel dazu beitrug, daß die Zeremonien, die hier in der Tiefe stattfanden, so überwältigend waren.
    Sie folgten jetzt einem schmalen Pfad, kaum mehr als ein Felssims über tiefem Nichts, und Chert ging sehr vorsichtig, nicht zuletzt, weil das Licht des ersten Korallenstücks allmählich erstarb. Ihm war klar, daß sie nach allen Geboten der Vernunft bald umkehren mußten. Er hatte nicht damit gerechnet, so tief hinabzusteigen, hatte sich sogar noch für sehr schlau gehalten, weil er ein zweites Korallenstück mitgenommen hatte, aber als er dieses jetzt in seine Stirnlampe aus poliertem Horn tat und der Brocken beim Kontakt mit dem Salzwasser aufleuchtete, wurde ihm jäh bewußt, daß das alles war, was sie noch davor bewahrte, im Dunkeln umherzuirren — und wenn der kleine Block eine schlechte Wahl getroffen hatte? Chert war ein Funderling, den dunkle und tiefgelegene Orte nicht in Panik versetzten.
    Sein Tastsinn war hoch entwickelt, und er kannte sich mit Höhlen und Stollen aus, aber dennoch konnte es sein, daß er erst nach Tagen wieder hinausfinden würde — und es dann für Klein-Flint womöglich zu spät wäre.
    »Was
ist
hier unten?« krächzte Giebelgaup plötzlich. Die dicke, duftgeschwängerte Luft schien ihm auf die Stimme zu schlagen. »Was sollte Euer Junge hier bloß wollen?«
    »Ich weiß nicht.« Chert hatte auch nicht mehr viel Luft zum Sprechen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und erschrak fürchterlich, weil er sich beinah die Stirnlampe vom Kopf gefegt hätte, direkt in den Abgrund. »Es ist ... es ist ein mächtiger Ort. Der Junge war immer schon seltsam. Ich weiß es nicht.«
    Als sie dem schmalen Pfad weiter abwärts folgten, fragte sich Chert, ob ihn diese faulige Luft allmählich erstickte, oder ob da etwas höchst Seltsames vor sich ging. Manchmal glaubte er, Stimmen zu hören — ganz schwach herangetragene Worte, als ob eine Funderlingskolonne nur ein paar hundert Schritt weiter in einem der Seitengänge arbeitete. Dann wieder huschten Lichtpünktchen durch das Dunkel, so schnell wie die, die man hinter geschlossenen Lidern sah. Solche Erscheinungen konnten ein Anzeichen für giftige Luft sein, und an jedem anderen Ort hätte Chert kehrtgemacht und den Rückzug angetreten, doch die Luft im tiefsten Teil der Mysterien war zwar nicht frisch, aber, soweit er wußte, auch nicht tödlich. Giebelgaup hingegen hatte echte Atemprobleme; der Funderling machte sich klar, daß der kleine Wicht ja die reine Luft der hohen Dächer gewohnt war. Doch selbst Chert träumte jetzt im Gehen von jener kalten, klaren Luft, und irgendwann merkte er plötzlich, daß er nur einen Schritt vom Abgrund entfernt war. Es ging tief, tief in schwarzes Dunkel hinunter. Wie tief, konnte Chert nur vermuten.
    Die Flüsterstimmen waren immer noch da. Es hätten einfach nur Luftströme sein können, die durch den Gezeitenwechsel von den höher liegenden Hallen in die Gänge hinabgedrückt wurden — sie waren jetzt weit unterm Meeresspiegel —, aber Chert glaubte Worte zu hören, Schluchzen, ja sogar ferne Schreie, die ihm die Haare zu Berge stehen ließen. Die Tempelbrüder kamen auch hier herunter, sagte er sich, und überlebten es, doch dieser Gedanke half wenig gegen die Angst. Wer wußte denn, welche Vorbereitungen sie dafür trafen, welche geheimen Opfer sie den Herrschern der Tiefen darbrachten? Er dachte an das heilige Mysterium der Alten der Erde und an die Leise Blinde Stimme und mußte gegen die wachsende Furcht ankämpfen.
    Unbestreitbar war allerdings, daß es um sie herum heller wurde: Chert erkannte jetzt bereits die Formen der Höhlenkammer, die sie durchquerten. Zum erstenmal seit Stunden verspürte er so etwas wie Hoffnung. Sie kamen jetzt in eine Gegend, die er kannte, die Teil der Pilgerroute war. Kurz darauf, als der tückische Simspfad endlich in eine bogenförmige Felsöffnung mündete, war um sie herum plötzlich milchiges, blauweißes Licht.
    »Die Mondsteinhalle«, verkündete Chert erleichtert, wenn auch kaum noch mit dem nötigen Atem. Das kühle Leuchten der mit großen, zerklüfteten Brocken von durchscheinend hellem Edelstein gespickten Wände stand in bizarrem Kontrast zu der sumpfigen Luft. »Seht Ihr, die Höhlen hier unten erzeugen ihr eigenes Licht. Wir sind jetzt nah beim Zentrum der Mysterien.«
    Giebelgaup nickte nur wortlos, offenbar überwältigt von der erhabenen Pracht dieser Höhle, deren Wände wie rauchig blaues Eis

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