Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
sich heillos verirrt hatte. Er wollte sich gerade hinsetzen und vor Verzweiflung weinen, als er plötzlich einen Luftzug im Gesicht spürte. Jetzt hämmerte sein Herz vor Freude und Erleichterung, und er nahm noch ein paar weitere Abzweige, immer dem Luftzug nach, bis er schließlich aus dem Labyrinth in die blauleuchtende Weite der Meereshalle trat, aber sein Glück war von kurzer Dauer. Er war auf der Felsgalerie am Ausgang des Labyrinths, und unter ihm lag ein langer, tödlicher Steilabsturz, der eine so wirksame Barriere darstellte, daß auch die Pilger, die den Weg durch alle Mysterien zurückgelegt hatten, von der riesigen Meereshalle nie mehr sahen als er jetzt. Es gab keinen Weg hinunter auf den Grund der Höhle, und auf der mächtigen Galerie aus gewachsenem Fels war von Flint keine Spur zu entdecken.
    Aber sonst konnte der Junge doch nirgends sein.
    Erschöpft und entmutigt weinte Chert jetzt wirklich. Auf Händen und Knien kroch er ganz an den Rand der Galerie, fast sicher, daß er den zerschmetterten Körper des Jungen dort unten auf dem zerklüfteten Felsufer liegen sehen würde, beleuchtet vom bizarren blauen Kristall der Höhlendecke. Aber die Wüste aus aufeinandergetürmten Felstrümmern war leer, überall, bis an das silbrige Meer der Tiefe mit der unerreichbaren Insel in der Mitte, wo jene riesige Felsformation stand, die in so vielen Funderlingsalbträumen und -Offenbarungen vorkam. Das wie ein Mann geformte Felsgebilde lag in tiefem Schatten, aber sonst drang das Licht, das vom Stein des Höhlendaches ausging, fast überallhin. Flint war nicht zu entdecken, weder tot noch lebendig.
    Chert wurde jäh in die Qual der Ungewißheit zurückgeworfen. Waren er und Giebelgaup an irgendeiner Wegscheide einfach an Flint vorbeigelaufen, nicht ahnend, daß der Junge ganz in der Nähe lag, bewußtlos oder gar tot? Die Mysterien und das System von Gängen und Höhlen über ihnen waren unvorstellbar komplex — er hatte doch keine Ahnung, wo er mit einer neuen Suche beginnen sollte, wenn die Nase des Dachlings nicht verläßlich war.
    Und plötzlich, als spürte sie Cherts Anwesenheit über die Entfernung hinweg, begann die riesige, rätselhafte Steinfigur mitten im Meer der Tiefe flackernd aufzuleuchten, und Cherts Herz raste, daß er glaubte, es müßte jeden Moment bersten. Er hatte die Figur erst einmal gesehen, als er bei seiner Initiation hiergewesen war, in Begleitung anderer junger Funderlinge und unter der Führung der Metamorphosebrüder. Diesmal war er allein und voller Schuldgefühle wegen seines unerlaubten Eindringens. Als die mächtige, kristalline Figur plötzlich blau, violett und golden aufglühte, spiegelte sich das Licht in der Oberfläche des Meeres, das nicht aus Wasser bestand, sondern aus etwas Quecksilberartigem, so daß die ganze Höhle voller tanzender Farben war und der Leuchtende Mann selbst sich zu bewegen schien, als erwachte er aus einem langen Schlaf. Chert warf sich bäuchlings auf den Stein. Er flehte die Alten der Erde um Vergebung an und bat sie inständig, ihn zu verschonen.
    Die Götter schienen nicht darauf aus, ihn auf der Stelle zu erschlagen, und nach einem Weilchen wurde das Licht etwas matter, so daß er den Kopf zu heben wagte, aber als er aufsah, packte ihn das Entsetzen erst recht. In dem Licht, das jetzt herrschte, sah er auf der Insel ein kleines Etwas — eine Gestalt, die sich bewegte, vom Rand des schimmernden Metallmeers langsam höher kroch, hin zu den Füßen des glühenden Riesen, des Leuchtenden Mannes. Obwohl die Entfernung so groß war und die Gestalt so klein wie ein Insekt, wußte Chert, wer es war.
    »Flint!« schrie er, und seine Stimme hallte weit über das Quecksilbermeer, aber die kleine Gestalt hielt nicht inne, ja, sie sah sich nicht einmal um.

30

Erwachen
    Rote Blätter:
Das Kind in seinem Bett,
Ein Bär auf einer Hügelkuppe,
Zwei Perlen, aus der Hand eines Alten genommen.

Das Knochenorakel
    Der Große Trigonatstempel war so hoch, daß er, selbst wenn das mächtige Portal geschlossen war, seine eigenen Winde erzeugte — die Tausende Kerzen auf Altären und in Seitenkapellen flackerten allesamt. Und so früh am Morgen war es hier auch sehr kalt. Barricks Arm schmerzte.
    Den Prinzregenten umgaben die Männer, die mit ihm nach Westen ziehen würden: sein ungeliebter Vetter Rorick Longarren, erprobtere Krieger wie Tyne von Wildeklyff und dessen alter Freund, Droy Nikomede von Ostlaken, mit dem extravaganten Schnurrbart, und viele andere, die

Weitere Kostenlose Bücher