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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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prosaischeren Grund zu nennen — daß sowieso nie jemand einen der äußeren Stollen benutzte, da diese einzig und allein dazu da waren, den Gang abzustützen, durch den er und Giebelgaup jetzt zur nächsten Sohle hinabstiegen.
    »Doch warum überhaupt hier Stollen graben?« fragte Giebelgaup plötzlich, vielleicht, um die Stille des engen Gangs zu durchbrechen, dessen abstrakte Steinreliefs Chert jetzt genauso bizarr und beunruhigend erschienen wie in jener weit, weit zurückliegenden Nacht seiner Initiation und auf einen Fremden wie den kleinen Wicht noch viel unheimlicher wirken mußten. »Sonst ist doch alles hier in dieser Tiefe von keiner Hand berührt.«
    Wieder überraschte ihn der wache Verstand des Winzlings und sein scharfes Auge für Einzelheiten an einem so fremden Ort. »Gute Frage.« Aber Chert fühlte jetzt allmählich die Kraft dieses Ortes, seine Bedeutsamkeit und Seltsamkeit, und ihm war nicht nach reden. Funderlinge betraten die Mysterien nicht leichtfertig, und obwohl er notfalls mitten ins rauchende Herz des J'ezh'kral-Schlunds marschieren würde, um den Jungen zu finden und seine Opalia wieder froh zu machen, belastete es ihn doch, daß jetzt nachgerade eine Invasion von Fremden — zuerst Flint und nun auch noch Giebelgaup — hier in diese heiligen Tiefen vordrang, und das einzig und allein durch Chert Blauquarz' Schuld.
    »Ich will Euch jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen. Vielleicht genügt es ja, wenn ich sage, daß unsere Ahnen irgendwann merkten, daß da noch ein ganzes Gefüge von Höhlen war, das sie nicht erreichen konnten, und daß sie diese Stollen gruben, um von den bekannten Höhlen — denen, durch die wir bisher gekommen sind — an diese tiefer gelegenen, unbekannten Stätten zu gelangen.«
    Natürlich genügte das nicht — es erklärte kaum etwas, schon gar nicht die tiefen Offenbarungen im Herzen der Mysterien, aber da war eben nur ein gewisser Teil, den man in Worte fassen konnte. Oder überhaupt in Worte zu fassen versuchen sollte.

    Der Gedanke, mit dem Schankknecht sprechen zu müssen, hatte sie beängstigt, aber nicht wegen des Schankknechts selbst. Auch wenn der Bursche eine Art Traumseher war, auch wenn er mit ihr womöglich das gleiche machen konnte wie mit Barrick — Dinge ans Licht holen und benennen, die sie im Schlaf verfolgten war doch das, was Briony fürchtete, ohnehin für niemanden, der seine fünf Sinne halbwegs beisammen hatte, ein Geheimnis. Sie fürchtete, ihren Bruder zu verlieren, ihren Vater, das, was noch von ihrer Familie übrig war. Sie fürchtete, daß sie versagen könnte, daß sie Südmark und die Markenlande preisgeben könnte. Sie fürchtete, angesichts der wachsenden Gefahr und der Tatsache, daß Olin in Gefangenschaft und ihr Bruder sonderbar und häufig krank war, daß sie die letzte Eddon-Herrscherin sein könnte.
    Nein, das werde ich nicht zulassen,
schwor sie sich, während sie durch die Kleine Halle zum Palast ging.
Ich werde notfalls skrupellos sein. Ich werde alle Wälder jenseits der Schattengrenze niederbrennen, sämtliche Tollys in Ketten legen lassen. Und wenn Shaso wirklich ein Mörder ist, werde ich ihn selbst zum Richtblock schleifen, um unser Königreich zu retten.
    Das war es natürlich, was sie geängstigt hatte, der Gedanke, daß der geschätzte Ratgeber ihres Vaters auch in solchen Zeiten einfach im Kerker vor sich hindämmerte. Wenn sie den Schankknecht Gil aufsuchte, der dort provisorisch untergebracht war, würde sie es dann vermeiden können, mit Shaso zu reden? Sie wollte ihn nicht einmal sehen: Sie war sich seiner Schuld nicht sicher, war es trotz aller Indizien nie gewesen, aber ein gut Teil des Herbstes war vergangen, ohne daß sich an der Situation etwas geändert hatte, und sie und Barrick konnten das Urteil nicht ewig vor sich herschieben. Dennoch, Briony war klar, daß sie nicht wirklich wußte, was in jener Mordnacht geschehen war, und die Vorstellung, einen der engsten Ratgeber ihres Vaters — einen Mann, der bei all seiner Härte und Strenge doch fast so etwas wie ein Vater für sie gewesen war — hinrichten zu lassen, war sehr unangenehm. Nein, sie war schrecklich.
    Ihre Wachen hatten sie bereits eingeholt, als sie den von hohen Mauern umgebenen Rosengarten erreichte, wo sich die Kleine Halle in einem überdachten Wandelgang fortsetzte, der sich über die gesamte Länge des Gartens zog. Der Garten wurde manchmal auch Verrätergarten genannt, weil hier einst ein erzürnter Edelmann einem von

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