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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Stufen hocken ließ.
Denk an den Jungen.
Das kleine, grimmig ernste Gesicht, die Arme, so dünn wie Opalias Besenstiel, das weißgoldene Haar, das einfach nicht glatt liegen wollte, sondern immer wieder abstand wie Eisenblumenkristalle, soviel Opalia auch bürsten mochte. Und natürlich Opalia selbst wenn er ihr den Jungen nicht zurückbrachte, wäre sie endgültig am Ende, würde etwas in ihr sterben.
    Er zwang sich, wieder aufzustehen, und setzte den Abstieg fort.
Ein Schritt. Damit fängt alles an: ein Schritt, dann noch einer. Und noch einer ...
    Nein, die Schattengrenze,
dachte er verschwommen,
angefangen hat alles an jenem Tag dort an der Schattengrenze ...
Noch während ihm plötzlich alles wieder mit bizarrer Klarheit gegenwärtig war — der bewaldete Hang, der Hufschlag, der Geruch der feuchten Erde unter seiner Nase —, als ob jemand eine Tür geöffnet hätte und die Vergangenheit hereinpolterte wie ein lauter Gast in ein stilles Zimmer, setzte er den Fuß auf die nächste Stufe und merkte, daß etwas ganz und gar nicht stimmte. Chert stolperte, schrie auf, ruderte mit den Atmen, begriff dann, während sein Herz so heftig schlug, als wollte es ihm jeden Moment aus der Brust springen, daß das Problem kein tödlicher Abgrund war, sondern das Gegenteil, Boden — nicht zuviel Leere, sondern zuwenig. Er hatte das Ende der scheinbar endlosen Abwärtsspirale von Stufen erreicht.
    Er hielt das Korallenstück hoch und sah sich um, doch wenn die Welt auch jäh aus der Senkrechten in die Waagrechte gekippt war, hatte sie sich ansonsten nicht groß verändert: Vor ihm zog sich der Gang weiter durch den gleichen rohen Fels. Er konnte zwar nicht richtig klar sehen, aber der Gang setzte sich fort, so weit das Licht reichte und wahrscheinlich noch viel weiter.
    Er führt unter das Meer der Tiefe? In
diesem Fall würde die Reise vielleicht doch irgendwo ein Ende haben — er hatte schon halb gefürchtet, er würde einfach immer weiter hinabsteigen, Tage, Wochen, um zuletzt womöglich an jene berühmten schwarzen Turmalintore zu kommen, die der Eingang zum unterirdischen Palast des Kernios selbst waren und von Immon, dem Torwächter, bewacht wurden. Das war ein Ort, den Chert ganz gewiß nicht sehen wollte, solange er noch am Leben war. Wenn die Großwüchsigen auch weite Teile der ursprünglichen Geschichte verharmlost hatten, so war die Funderlingsversion doch immer noch weit beängstigender. Er versuchte sich zu erinnern, wie breit das Quecksilbermeer war, aber das Flackerlicht hatte ihn verwirrt. Da er sonst noch nie so nah am Meer der Tiefe gewesen war, blieben ihm nur höchst vage Mutmaßungen. Er zuckte die Achseln und holte tief Luft. Von der heißen, sauren Luft wurde sein Kopf auch nicht klarer. Er wankte den Gang entlang.
    »Die Tiefen haben mit der Stadt soviel gemein wie der Himmel mit dem Felsgrund, Junge.«
    Komischerweise war da plötzlich die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Groß-Knoll (anders als sein Erstgeborener, Cherts Bruder, hätte dieser nie einen so pompösen Namen wie »Knoll der Ältere« geführt) war schon bald nach Olins Thronbesteigung durch einen Felsrutsch gelähmt geworden und hatte die restlichen Jahre seines Lebens damit zugebracht, sich zwischen seinem Bett und seinem Stuhl am Feuer hin- und herzuschleppen, aber in Cherts Kindheit war er noch voller Lebenskraft gewesen. Von allen seinen Söhnen war ihm Chert am ähnlichsten gewesen. »Der Junge liebt den Stein um des Steins willen«, hatte Groß-Knoll seinen Freunden in der Zunfthalle gern erklärt. Er hatte den Jungen oft auf Spaziergänge in die unfertigen Stollen am Rand der Funderlingsstadt mitgenommen und war ein paarmal sogar mit ihm in den oberirdischen Hügeln oder am Ufer der Brennsbucht umhergewandert und hatte ihm gezeigt, wie dort, wo der Regen die Erde wegspülte, der Kalkstein zum Vorschein kam und wie in einer Sandsteinklippe die Jahrhunderte gefangen waren, fast wie gepreßte Blumen im Buch einer Edelfrau.
    »Ein Mann, der den Stein und sein Verhalten kennt, ist so viel wert wie jeder tüchtige Mann, egal ob Großwüchsiger oder Funderling, Prinz oder Bauer, und er wird immer etwas zu tun und zu denken haben«,
hatte ein weiterer Lieblingsspruch des Alten gelautet.
    Zu seinem Erstaunen merkte Chert, daß er blind dahintappte, aber nicht weil seine Korallenlampe endgültig erloschen wäre, sondern weil er weinte.
    Jetzt hör aber auf,
sagte er sich.
Dieser Mann hat dich mit seinem Gürtelstrick blutig geschlagen,

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