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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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nur weil du ein paar Zuckerhutpilze aus dem Garten der Witwe Halilit gestohlen hattest. Als er schließlich starb, hat ihn deine Mutter kein Jahr überlebt, nicht weil er ihr so gefehlt hätte, sondern weil er sie in diesen letzten Jahren so geschunden hatte, daß sie bis ins Mark erschöpft war und einfach nicht mehr konnte.
    Trotzdem wollten die Tränen nicht versiegen. Er kam kaum noch vorwärts. Jetzt stand auch noch das Gesicht seiner Mutter vor ihm, die schwerlidrigen Augen, die so schön und würdevoll, aber auch so schmerzlich fern sein konnten, der Mund, der sich bei allem, was sie für unnötiges Getue hielt, abschätzig verzog. Er sah im Geist Lapis Blauquarz' abgearbeitete, aber geschickte Hände, wie sie eine Garnpuppe für eins ihrer Enkelkinder machten, ihre Finger, die immer in Bewegung waren, immer irgend etwas taten. Er konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals wach gesehen zu haben, ohne daß ihre Hände beschäftigt waren.
    »Was ist denn jetzt wieder los?«
Er hörte sie so deutlich, als stünde sie neben ihm, streng, aber nicht ohne Humor.
»Was ist denn das für ein Lärm? Felsriß, und Firstenbruch, das klingt ja, als ob hier drinnen jemand einen Maulwurf bei lebendigem Leibe häutet!«
    Chert mußte ein Weilchen stehenbleiben, um zu verschnaufen, und als er weiterging, fiel es ihm schwer, immer wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Wände, die jetzt nicht einmal mehr die gelegentlichen Schriftzeichen trugen, sondern so kahl waren wie ein Karnickelloch, schlossen sich immer enger um ihn, als ob sie ihn fangen und festhalten wollten, bis sich die Welt veränderte. Er hatte jetzt wieder die Phantasie, im Magen des Leuchtenden Mannes zu sein, verdaut zu werden, umgewandelt, zu einer Art Kristall, etwas Hartem, Starrem, Ewigem, in dem aber immer noch seine eigenen Gedanken eingesperrt waren und vergeblich gegen ihr Gefängnis ansurrten wie eine Fliege unter einem umgestülpten Becher.
    Als ob die Tiefe, die ihn umfing, plötzlich von einer Art Krampf erfaßt würde, fühlte er, wie sich diese Kraft, die Präsenz, die er für den Leuchtenden Mann gehalten hatte, zusammenzog, verdichtete, lokalisierte. Er spürte es so deutlich, wie er mit geschlossenen Augen spürte, wo oben und unten war — die Präsenz erdrückte ihn nicht mehr von allen Seiten, sondern hatte jetzt einen bestimmten Ort: vor ihm und weiter oben. Statt ihm ein Ziel zu geben, war ihre Kraft jetzt etwas, das ihm entgegenschlug wie starker Wind, als ob er und die Präsenz zwei Magnete wären, die sich abstießen. Chert senkte den Kopf, noch immer Tränenschleier vor den Augen, und zwang sich, einen qualvollen Schritt nach dem anderen zu tun.
    Was ist das für ein Ort? Was bedeutet das alles?
Er versuchte sich an die Worte der Tempelbrüder bei seiner Initiation zu erinnern, an die rituelle Geschichte vom Herrn des Heißen, Nassen Steins, aber da war nur ein Wirrwarr von sonoren, nahezu bedeutungslosen Worten und Bildern, so verwischt wie nasse Farbe.
Die Erde war ein trübes Ding,
murmelten und brüllten die Stimmen,
ein neues Ding, das Gleißen am Himmel so hell und das Antlitz der Erde doch so dunkel, die Schlacht darum, diesen Ort älteren, grausameren Göttern abzuringen, kein Werk von Tagen oder Wochen, sondern von Äonen, und es wurden Berge aufgeworfen, wo vorher keine Berge gewesen waren, und das Antlitz der Schöpfung zerriß, so daß das Wasser einströmte und riesige, dampfende Meere bildete.
    »In den Tagen, da keine Tage waren«,
hatten die ältesten Tempelbrüder zu Beginn der Initiationszeremonie gesungen, und Chert und die anderen Initianden hatten nur gestöhnt, weil ihre Köpfe voller Wachträume waren, die das Dunkel um sie herum bebilderten, und ihre Mägen sauer von dem
K'hamao,
das man ihnen zu trinken gegeben hatte, nachdem sie, ehe sie in die Mysterien hinabgeführt worden waren, zur Reinigung zwei Tage gefastet hatten.
In den Tagen, da keine Tage waren.
    Und jetzt? Was war das? Der Gang knickte plötzlich nach oben weg. Er verlor sich über Chert im Schattendunkel. Und irgendwie war Chert plötzlich wieder auf einer Treppe, aber diesmal stieg er hinauf, nicht hinab, und in seinem Kopf war ein einziges Chaos aus Gedanken, nur beinahe sichtbaren Visionen und dem unablässigen Brüllen des Herrn des Heißen, Nassen Steins, der gegen seine Feinde stritt, einem Brüllen, das die Wurzeln der Welt selbst erschütterte. Chert fühlte dieses Brüllen jetzt in seinen Knochen, fühlte, wie es ihn kurz

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