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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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sein Funderlingszeitgefühl, das normalerweise auch in himmellosen Tiefen sehr verläßlich war, an diesem Ort gelitten hatte, und arbeitete sich dann langsam durch das verschlungene Labyrinth zurück. Er trat in das weiche, warme Licht der Glühsteinkaverne hinaus, ohne irgendein Indiz gefunden zu haben, wie der Junge über das Meer der Tiefe gelangt sein konnte. Ja, er hatte nicht einmal etwas entdeckt, was darauf hindeutete, daß Flint überhaupt hier vorbeigekommen war. Chert machte kehrt und schleppte sich wieder in umgekehrter Richtung durch das Labyrinth, immer sicherer, daß er nie herausfinden würde, was mit dem Jungen passiert war. Diesmal jedoch nahm er in seiner Erschöpfung einen falschen Abzweig und befand sich plötzlich in einem Teil des Labyrinths, wo er noch nie gewesen war. Er merkte es daran, daß sich der Boden unter seinen Füßen anders anfühlte, und zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß der Weg von der Glühsteinkaverne zum sogenannten Balkon in der Mitte regelrecht ausgehöhlt war: die Spur unzähliger Füße. Und er begriff plötzlich auch, wie es die Tempelbrüder schafften, im Dunkeln durch das Labyrinth zu finden — jedenfalls
eine
Methode. Jetzt war er in einem Teil, wo der Felsboden ganz eben war, als ob hier noch nie jemand gegangen wäre.
    Er kämpfte einen Anfall von Panik nieder. Selbst wenn er sich verirrt hatte, war er hier wohl auch nicht schlimmer dran als am Ufer des Quecksilbermeers. Die Tempelbrüder, wenn sie denn kamen, waren die Hüter des Labyrinths. Sie mußten doch jeden Winkel hier unten kennen.
    Trotzdem, da war schließlich sein sprichwörtliches Pech.
Sie müßten sich auskennen, ja. Aber vielleicht tun sie's ja nicht.
    Chert bemühte sich, denselben Weg wieder zurückzugehen, aber er war zerstreut gewesen, als er den falschen Abzweig genommen hatte, und wußte nicht mehr, wie lange er gegangen oder wie oft er abgebogen war, ehe er seinen Fehler bemerkt hatte. Er hielt sein glühendes Korallenstück hoch und suchte die Schieferwände nach irgendwelchen Anhaltspunkten ab. Sie wiesen zwar dieselben undeutbaren Felsbilder auf wie die vertrauteren Bereiche des Labyrinths — neben mächtigen, die ganze Wand einnehmenden Figuren mit riesigen Augen und verrenkten Gliedmaßen auch Schnörkel und Punkte, die wie eine ihm gänzlich unbekannte Schrift aussahen —, aber diese Verzierungen waren von Wand zu Wand und von Kammer zu Kammer gleich oder jedenfalls so ähnlich, daß er sich daran auch nicht orientieren konnte.
    Immerhin habe ich etwas gesehen, das wohl außer den Metamorphosebrüdern kaum je jemand gesehen haben kann,
sagte er sich und dachte wieder an seine Wanderung durch das Stockdunkel bei der Initiationszeremonie.
Was bedeutet das alles? Können die Brüder es lesen?
    Plötzlich mußte er an den seltsamen Ausdruck in Bruder Nickels Augen denken, als dieser erzählte hatte, der alte Tempelvorsteher, Großvater Sulphur, habe geträumt,
»daß die Stunde kommt, da die Alte Nacht ausgreifen wird ... und daß die Tage der Freiheit für uns vorüber sind«.
Trotz der stickigen Hitze fröstelte Chert. Hier in der Tiefe, unter den Augen dieser unheimlichen Wesen, konnte man leicht den Atem der Alten Nacht im Nacken spüren.
    Er fuhr herum, plötzlich ganz sicher, daß ihm etwas folgte, aber der Gang hinter ihm war leer.
Ich mache es nur noch schlimmer,
dachte er.
Ich sollte stehenbleiben und warten, bis die Tempelbrüder kommen.
    Und wenn das Licht seiner Koralle endgültig erstarb, während er wartete? Dunkelheit hatte Chert noch nie angst gemacht, aber jetzt war das ein gräßlicher Gedanke.
    Er bog um eine weitere Ecke und fand sich in einer Sackgasse. Riesige Gesichter starrten von drei Seiten auf ihn herab, so daß er sich wie ein Kind zwischen lauter zornigen Erwachsenen fühlte. Vor Schreck entfuhr ihm ein leiser Aufschrei, und er hörte das Echo, aber ehe er stehenbleiben konnte, hörte er noch etwas anderes: einen hohlen Klang unter seinen Füßen, einen Schritthall, der vorher nicht dagewesen war. Es verwirrte ihn — im ersten Moment dachte er, da wäre noch jemand im Labyrinth —, doch dann kniete er sich hin und hielt die Korallenlampe dicht über den Boden. Er starrte die schartigen Steinplatten an, klopfte dann mit dem Fingerknöchel darauf. Das Geräusch war eindeutig anders.
    Chert hebelte mit den Fingern an der Kante einer Steinplatte herum, und zu seiner Verblüffung ließ sie sich ein wenig anheben, löste sich unter einigem Widerstand aus

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