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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Qinnitan bezweifelte sehr, daß Arimone das auch so sah. Sie war sich sicher, daß in der Welt der Ersten Ehefrau für Freundschaft oder überhaupt für den Umgang unter Gleichen wenig Platz war.
    Die Frisiersklavin beendete gerade ihr Werk, als die Soldaten draußen auf den Mauern die rituellen Worte riefen, die den Wachwechsel bei Sonnenuntergang begleiteten:
»Falken zurück! Auf den Handschuh! Auf den Handschuh!«
Qinnitan war sich ziemlich sicher, daß der Autarch, nachdem er es nun fast schon ein Jahr so gehalten hatte, auch heute abend nicht auf die Idee kommen würde, sie zu sich zu rufen, und sie freute sich darauf, ein, zwei Stunden für sich zu haben, ehe der Schlaf womöglich neue, beängstigende Träume bringen würde. Sie nahm sich vor, ihre Abendgebete zu sprechen und dann noch ein bißchen zu lesen. Eine der anderen Bräute, die jüngste Tochter des Herrschers irgendeines winzigen Wüstenkönigreichs am Südrand von Xis, hatte ihr ein wunderschön illustriertes Buch mit Gedichten des berühmten Baz'u Jev geliehen. Qinnitan hatte schon einige gelesen, und sie hatten ihr sehr gefallen — Baz'u Jevs Verse über Schafhirten, die in ihren kargen Bergen dem Himmel so nahe waren, daß sie sich »Wolkenleute« nannten, sprachen von einem freien und einfachen Leben, das sie mit Sehnsucht erfüllte. Die junge Wüstenprinzessin schien wirklich ganz nett, und Qinnitan hoffte, daß sie eines Tages Freundinnen werden würden, da sie beide zu den Jüngsten im Frauenpalast gehörten. Was natürlich nicht hieß, daß sie unvorsichtig geworden wäre. Sie faßte das Buch nie ohne Handschuhe an. Gleich als sie in den Frauenpalast gekommen war, hatte Qinnitan die Geschichte von jener Ersten Ehefrau gehört, die vor rund hundert Jahren eine Rivalin aus dem Weg geräumt hatte, indem sie die Kanten der Seiten eines Buchs mit Gift bestreichen ließ.
    Diese Geschichte sagte viel über den Frauenpalast, nicht nur, weil es darin um Mord ging, sondern auch, weil die Erste Ehefrau bereit war, Wochen oder gar Monate darauf zu warten, daß sich die neue Favoritin des Autarchen beim Umblättern in den Finger schnitt. Auch wenn Männer immer von der Sprunghaftigkeit der Frauen redeten, war doch der Frauenpalast ein Ort unendlicher Geduld und Raffinesse, vor allem, wenn viel auf dem Spiel stand. Und in diesem Fall ging es immerhin um die Gewißheit, daß das eigene Kind einmal über das mächtigste Reich der gesamten Welt zwischen den Meeren herrschen würde.
    Handschuhe hin oder her, Qinnitan freute sich auf ein wenig Zeit in der klaren Welt des Baz'u Jev, deshalb war es ärgerlich — und wie immer im Frauenpalast auch ein wenig beängstigend —, daß, gerade als die Frisiersklavin ging, ein Botenjunge erschien.
    Verdutzt erkannte Qinnitan den stummen Knaben, der vor knapp zwei Wochen nachts in ihrem Zimmer gewesen war. Da er jetzt eine lose Tunika trug, konnte sie nicht sehen, ob die Wunde gut verheilt war, aber der Junge schien wohlauf. Er sah ihr kaum in die Augen, als er ihr die Schriftrolle gab. Das machte sie zwar traurig, aber letztlich war es nicht verwunderlich, daß er sich nicht mit ihr anfreunden wollte: Sie hatte ihn schließlich beinah mit einer Gewandnadel erstochen.
    Die Schriftrolle war seltsamerweise weder zugebunden noch versiegelt, aber der intensive Veilchenduft sagte Qinnitan, daß sie nur von Luian kommen konnte. Sie wartete, bis die Frisiersklavin draußen war, ehe sie das Blatt entrollte.
    Die Botschaft war hastig hingeworfen. Sie lautete:
    Komm sofort.
    Mehr stand da nicht.
    Qinnitan bemühte sich, ruhig zu bleiben. Vielleicht war es ja einfach nur eine Laune von Luian. Sie hatten in den letzten Wochen selten miteinander geredet und nur ein einziges Mal zusammen Tee getrunken, eine ziemlich gezwungene Angelegenheit, da das Thema Jeddin die ganze Zeit im Raum gestanden hatte, aber kein einziges Mal angesprochen worden war. Sie hatten es mit dem üblichen Klatsch und Tratsch versucht, doch herausgekommen war nur mühselige Konversation. Es war zwar ungewöhnlich, daß Luian eine so knappe und formlose Botschaft schickte, aber vielleicht war es ja Ausdruck irgendeines heftigen Stimmungsumschwungs — schließlich neigte die Begünstigte Luian zu dramatischen Gefühlsausbrüchen, die populären Geschichten oder gar Liebesgedichten entnommen schienen. Vielleicht wollte sie Qinnitan ja vorwerfen, daß sie eine schlechte Freundin war. Oder sie plante eine tränenreiche Verzichtserklärung, was Jeddin anging —

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