Die Grenze
zu erscheinen schien, und die Anliegen gingen vom Wichtigen bis zum Absurden. Wer hingegen nicht auftauchte, war Hendon Tolly, und von seinen Begleitern und Freunden hatte sie — seit der Begegnung mit seiner Schwägerin in der Ahnengalerie — ebenfalls nichts mehr gesehen.
»Sie versuchen sich eine Meinung zu bilden, was diese Entdeckung bedeutet«, flüsterte ihr Brone zu. »Man hat mir gesagt, sie seien heute morgen wie üblich in der Festung umherspaziert, hätten sich aber auf die Nachricht hin in ihre Räume zurückgezogen.«
»Das klingt plausibel. Aber warum haben wir die Tollys, Durstin Krey und die anderen Unruhestifter so dicht beisammen untergebracht?«
»Weil Krey vor einiger Zeit schon darum gebeten hat, Hoheit«, erklärte Nynor. »Ende des Sommers erklärte er mir, er wolle während der Festlichkeiten zum Waisentag gemeinsam mit den Tollys ein Mahl ausrichten. Damals dachte ich, er meinte einfach nur Herzog Gailon und dessen Gefolge.«
Briony runzelte die Stirn. »Heißt das, sie haben damals schon etwas geplant?«
Avin Brone grunzte. »Ich traue den Tollys nicht, aber wir sollten doch nicht so tun, als ob sie unser größtes Problem wären.«
Der alte Nynor schüttelte den Kopf. »Schon möglich, daß sie etwas im Schilde geführt haben, Hoheit, aber es kann auch sein, daß sie wirklich nur ein Mahl ausrichten wollten. Wo wir gerade dabei sind, Prinzessin, wir müssen Vorbereitungen für das Festmahl treffen.«
Zuerst begriff sie gar nicht, was er meinte. »Festmahl? Ihr meint, am Waisentag? Seid Ihr verrückt? Wir sind im Krieg!«
»Ein Grund mehr.« Steffans Nynor konnte stur sein, und er war nicht so viele Jahre Burgvogt gewesen, ohne eigene Vorstellungen zu entwickeln. Briony war ärgerlich und hätte am liebsten einfach nein gesagt und ihn entlassen, überlegte jedoch, was ihr Vater sagen würde — so etwas wie:
Wenn man Männern ein Amt gibt und sie sich erst einmal bewährt haben, sollte man sie machen lassen, ohne ihnen dauernd dreinzureden. Wer Verantwortung trägt, muß auch Vertrauen genießen.
»Warum meint Ihr, daß wir das tun sollen?«
»Weil es Feiertage sind, an denen wir die Götter und Halbgötter preisen, und weil wir deren Hilfe nötiger haben denn je. Das ist
ein
Grund.«
»Ja, aber wir können doch die Opferzeremonien und Rituale abhalten und auf die Prasserei und die Lustbarkeiten verzichten.«
»Wozu brauchen die Leute Lustbarkeiten, Hoheit, wenn nicht, um dem Leben ein paar Dornen zu nehmen?« Die Augen des alten Mannes tränten und blinzelten, aber sein Blick war hart und fordernd. »Verzeiht, wenn ich außer der Reihe spreche, Prinzessin Briony, aber was eine Stadt im Belagerungszustand am dringendsten braucht, scheint mir doch Ermutigung. Und die Erinnerung daran, was es zu verteidigen gilt. Ein wenig Fröhlichkeit und Normalität sind da von großem Nutzen.«
Sie erkannte die Weisheit seiner Worte, aber ein Teil von ihr kam nicht über das Gefühl hinweg, daß das alles nur Theater wäre und daß falsche Fröhlichkeit schlimmer war als Bedrücktheit.
Avin Brone schien ihre Gedanken lesen zu können. »Die Leute werden die wahren Gefahren nicht vergessen, Hoheit. Ich glaube, Nynor hat recht. Etwas gedämpftere Festlichkeiten vielleicht, wir wollen ja nicht den Eindruck erzeugen, daß wir im Schatten des Krieges und vor allem im Schatten von Gailons Ermordung — und natürlich auch im Schatten der Ermordung Eures Bruders — allzu ausgelassen feiern, aber wir wollen doch auch nicht, daß dieser Winter noch trister wird, als die Notwendigkeit gebietet.«
»Nun gut, es wird eine stille Feier geben.«
Nynor nickte, verbeugte sich und zog sich zurück. Er schien zufrieden, fast schon erfreut, und einen unangenehmen Moment lang fragte sich Briony, ob der Vogt vielleicht irgendwelche eigenen Pläne verfolgte, ob er sie in irgendeiner heimlichen, selbstsüchtigen Absicht manipuliert hatte.
So geht es immer weiter,
dachte sie.
Ich kann nicht einmal mehr die simpelsten Dinge tun, ohne in Zweifel und Mißtrauen zu verfallen, ohne Angst zu haben. Wie hat Vater das all die Jahre ausgehalten? Sicher, in Friedenszeiten war es wohl etwas besser, aber dennoch ...
Verfluchte Zeiten.
Ehe sie in die belebteren Viertel der Funderlingsstadt kamen, erklärte Giebelgaup, er werde sich jetzt verabschieden. Cherts besorgte Fragen wischte er beiseite. »Gewiß find ich den Weg. Es wimmelt doch in diesen Höhlen zum mindesten von blöden, lahmen Ratten. Ihr werdet sehn, wie
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