Die Grenze
stieß fast an die Decke. Sie streckte die Hand aus. »Kommt. Ich soll Euch zu meinem Herrn bringen.«
35
Die seidene Schnur
Die Krabben:
Alle tanzen.
Der Mond duckt sich ängstlich,
Er wird die nackte Allmutter sehen.
Das Knochenorakel
AIs sich die mächtige Hand um sie schloß, spürte sie ein Klingen wie von einem Kristall, ein tiefes Vibrieren, das nichts mit ihr zu tun hatte, sondern durch diese gewaltige Hand lief, als gehörte sie zu einer Glocke von der Größe eines Berges. Das unfaßbar riesige Etwas hob sie hoch, und wenn sie auch sein Gesicht nicht sehen konnte — es stand mitten in einer Art Nebel, der zwar lichtdurchblitzt, aber dennoch düster war, so als tobte ein Gewitter im Inneren der Erde —, erkannte sie doch das tiefere Dunkel des Mundes, und es kam ihr immer
näher, näher ...
Sie schrie oder wollte es zumindest, aber da war nur Stille in dieser feuchtkalten Leere, Stille und Nebel und das dunkle Maul, das immer größer wurde, über ihr hing wie eine finstere Wolke. Das gigantische Etwas würde sie verschlingen, das wußte sie, und es versetzte sie in Todesangst, war aber gleichzeitig auch erregend, so wie das beängstigende Kindheitsvergnügen, von ihrem Vater durch die Luft gewirbelt zu werden, oder wie die Ringkämpfe mit ihren Brüdern, die damit geendet hatten, daß sie hilflos festgenagelt am Boden lag ...
Qinnitan fuhr schweißgebadet hoch, ihr Herz raste. Ihre Sinne waren überwach, und ihre Haut kribbelte, als läge sie mitten in einem der mächtigen Bienenstöcke des Tempels, bedeckt mit einer gemächlich summenden Schicht heiliger Bienen. Sie fühlte sich irgendwie benutzt — von ihrem Traum vielleicht —, ja sogar besudelt, doch als ihr Herzschlag sich wieder verlangsamte, breitete sich eine träge Wärme in ihrem Körper aus, ein fast schon lustvolles Gefühl, zumindest aber ein Gefühl sich lösender Spannung.
Qinnitan sank auf ihr Bett zurück, flach atmend, überwältigt. Ihre Hand wanderte zu ihren Brüsten und entdeckte, daß ihre Brustwarzen unter dem Nachthemdstoff schmerzhaft hart geworden waren. Verstört setzte sie sich wieder auf. Jenes dunkle, alles verschlingende Maul hing immer noch über ihrem Denken, so wie es über ihrem Traum gehangen hatte. Sie sprang aus dem Bett und ging zu ihrer Waschwanne. Das Wasser war schon seit dem Abend darin und ziemlich kalt, doch statt ihre Dienerinnen zu rufen und sich heißes Wasser bringen zu lassen, hockte sie sich dankbar hinein, zog das Nachthemd bis zum Hals hoch und besprengte sich am ganzen Körper, bis sie zu frieren begann. Noch immer zitternd, setzte sie sich in das flache Bad, legte das Kinn auf die Knie und ließ ihr Nachthemd das Wasser aufsaugen, bis es an ihr klebte wie eine klamme zweite Haut.
Der Rest des Tages verlief ruhiger und normaler, wenn auch die endlosen, monotonen Gebete und das Trinken des Sonnenbluts so schlimm wie immer waren. Wenn Panhyssir und vielleicht sogar der Autarch selbst sie umbringen wollten, dann zogen sie es absurd lange hin, das mußte sie zugeben, aber was auch immer das Ganze bezweckte, es machte sie jedenfalls sehr elend.
Gleich nach Qinnitans Abendessen kam die Frisiersklavin, um ihre rote Haarsträhne — die Hexensträhne, wie ihre Kindheitsfreundinnen sie genannt hatten — neu zu färben, weil das Rot an den Haarwurzeln schon wieder sichtbar war. Bereits wenige Tage nach Qinnitans Ankunft im Frauenpalast hatten Luian und die anderen Begünstigten befunden, daß eine Braut des Autarchen nicht gescheckt sein durfte wie ein Mischlingsköter. Die Frisiersklavin trocknete ihr Haar und arrangierte es zu einer ansprechenden Frisur, für den höchst unwahrscheinlichen Fall, daß der Autarch sie heute abend endlich zu sich rufen würde. Qinnitan versuchte, ganz still zu sitzen: Diese Frisiersklavin hatte die Angewohnheit, einen, wenn man sich zuviel bewegte, mit einer Haarnadel zu stechen — und sich dann natürlich tausendmal dafür zu entschuldigen.
Ich bezweifle, daß sie sich das bei Arimone erlaubt.
Aber Qinnitan wollte nicht an die Erste Ehefrau denken. Seit jenem Tag, da sie Arimone in deren Palast besucht hatte, war keine Einladung mehr gekommen, und es hatte auch keine offenen Feindseligkeiten mehr gegeben, wenngleich die argwöhnischen Blicke jener Ehefrauen und Bräute, die sich als Freundinnen des mächtigen Abendsterns betrachteten, kaum zu übersehen waren. Nun ja, sie mochten sich vielleicht für Freundinnen der mächtigen Ersten Ehefrau halten, aber
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