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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Baumstamm. Als Yasammez hinritt, sah der Junge auf. Sein Blick war tränentrüb, sein Gesicht weiß. Yasammez trug ihren schmucklosen Helm, und sie wußte, in seinen verängstigten Augen mußte sie ebenso grotesk wirken wie der Riese: die Rüstung von Stacheln starrend, Weißfeuer in ihrer Hand glimmend wie ein versteinerter Mondenstrahl. Sie schob den Helm hoch, betrachtete den vorerst verschonten Gefangenen. Die Augen des Jungen, in denen bis jetzt nichts gestanden hatte als Todesangst und eine Art Resignation, wurden noch weiter.
    Yasammez sah ihn an. Er sah sie an. Seine Kiefer arbeiteten, aber er brachte nichts heraus.
    Sie streckte die Hand aus, spreizte die Finger. Seine erstaunten, angsterfüllten Augen schlossen sich, und er sank rücklings ins nasse Gras, schlaff und bewußtlos.

    Das Kostümspiel zum Winterfest und die dazugehörigen Tempelrituale hatten schon früh am Morgen begonnen, und obwohl es noch nicht Mittag war, bereute Briony bereits zutiefst, daß sie sich von Nynor hatte überreden lassen, diese höchst unfestlichen Festlichkeiten anzusetzen. Statt daß die vertrauten Abläufe, wie der Vogt gemeint hatte, allgemein beruhigend wirkten, sorgte die Versammlung des gesamten Hofstaats nur dafür, daß sich die Gerüchte schneller verbreiteten, als sie es sonst je getan hätten. Rose und Moina hatten ihr erzählt, auch wenn es niemand öffentlich zugebe, neigten doch viele Adlige dazu, den Tollys zu glauben, daß Briony und Barrick Herzog Gailon hatten töten lassen. Die Tatsache, daß Hendon und seine Anhängerschaft den Veranstaltungen fernblieben, machte es nur noch schlimmer, denn sie schürte den Eindruck, daß Briony kaltherzig Feste feierte, während sie in Trauer waren.
    Wo sind all die, denen wir geholfen haben — wo sind die, deren Gefolgschaftstreue wir uns immer wieder verdient haben? Haben sie vergessen, was mein Vater für sie getan hat, was Kendrick getan hat, was selbst Barrick und ich während unserer kurzen Regentschaft zu tun versucht haben?
Während sie auf die Menge hinabstarrte, die sich in dem großen, mit den ringsherum aufgestellten Zelten fast wie ein Heerlager anmutenden Garten drängte, wurde sie das Gefühl nicht los, daß all diejenigen, die sie flüstern sah, über sie herzogen. Sie wußte, sie konnte es nicht wagen, selbst etwas dazu zu sagen — solche Gerüchte zu dementieren, verlieh ihnen nur noch mehr Gewicht —, und es machte sie rasend.
    »Ich würde sie am liebsten mit der Reitpeitsche schlagen lassen, jeden einzelnen dieser treulosen Kerle«, murmelte sie.
    »Wie bitte, Hoheit?« fragte Nynor.
    »Nichts. Selbst bei der Kälte ersticke ich in diesem Kostüm.« Sie zupfte an dem Kleid der Winterkönigin, das Anissa im Vorjahr getragen hatte: weiter, weißer Reifrock und beinhartes Mieder, alles besetzt mit winzigen Perlen, die aussahen wie gefrorene Tautropfen. In der kurzen Zeit hatten es nicht einmal ein halbes Dutzend Näherinnen geschafft, das Ding so zu ändern, daß die wesentlich größere Briony halbwegs bequem hineinpaßte. »Ist es nicht endlich Zeit, dieses alberne Kostümspiel zu beenden? Ich möchte essen.«
    »Die Zeremonie ist fast vorbei, Hoheit.« Als routinierter Höfling versuchte Nynor, seinen Worten etwas Entschuldigendes zu geben, aber er mißbilligte ihre Ungeduld ganz offenkundig. »Gleich werdet Ihr ... ah, da! Geht hin und nehmt, was der Knabe Euch darreicht. Wißt Ihr Eure Worte?«
    Sie verdrehte die Augen. »Soviel es da zu wissen gibt.« Sie rauschte über den Rasen und blieb still stehen, während ihr der kleine Idrin, Gowan von Helmingsees jüngster Sohn, einen Mistelzweig und ein Sträußchen getrocknetes Mädesüß reichte und die rituellen Sätze von der Wiederkehr der Sonne und der Zeit neuen Erblühens herunterhaspelte. Er war ein hübsches Kind, aber seine Nase lief auf höchst unvorteilhafte Weise, und erst als sie den Mistelzweig in der Hand hielt, merkte sie zu ihrer Bestürzung, daß er klebte.
    »Ja, guter Waisenknabe«, beschied sie den Kleinen, während sie versuchte, gleichzeitig die Gaben festzuhalten und sich verstohlen die Finger mit dem Taschentuch abzuwischen. »Aufgrund deines Opfers werde ich der Sommerkönigin gestatten, zurückzukehren und ihren Thron auf der anderen Seite des Jahres einzunehmen. Nun geh zu den Göttern und laß dich belohnen.«
    Der kleine Idrin legte sich hin und starb unter mächtigem Zucken und Stöhnen, aber in diesem Jahr ließ sich die Menge — vielleicht aus abergläubischer

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