Die Grenze
Funderlinge (aus gutem Grund) weniger Vertrauen zu ihren großwüchsigen Brüdern gehabt hatten und es ihnen wichtig gewesen war, jederzeit einen Fluchtweg zu haben. Jetzt wurde die alte Notfallstraße kaum noch benutzt. Sie war ziemlich heruntergekommen, und man fand sich nur mit Hilfe eines langen Reimgedichts zurecht, das Chert von seinem Vater gelernt hatte und das einem sagte, wann man wohin abbiegen mußte, um vom Außenbereich der Funderlingsstadt durch die tropfenden Kavernen unter der Bucht schließlich ans Festland hinüberzukommen. Die jetzigen Umstände nahmen Chert jeden Spaß an dem Unternehmen, und natürlich steckte ihm auch noch die Erinnerung an die Unterquerung des Meers der Tiefe in den Knochen, wo ihn bei jedem Schritt albtraumhafte Visionen geplagt hatten. Diese Strecke war jedoch bei weitem nicht so schwierig, wenn auch wesentlich länger. Das einzige, was die Wanderung für Chert ein wenig beängstigend machte, war das sonderbare Verhalten seines Gefährten.
Tatsächlich schien Gil ähnlich zu leiden, wie Chert in den tiefen Mysterien gelitten hatte. Von Dingen gepeinigt, die der Funderling gar nicht sah, murmelte er vor sich hin und sprach ein paarmal sogar in einer Sprache, die Chert nicht kannte. Erst als der magere Fremde den dritten oder vierten Anfall dieser Art durchmachte, ging Chert auf, daß er so etwas schon einmal gesehen hatte.
Flint, drunten in der Eddon-Gruft. Die Felsöffnung dort.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm schon längst hätte kommen müssen.
Hat Flint es gewußt — hat er sich deshalb in der Gruft so seltsam aufgeführt? Wußte er, er würde irgendwann dort hinuntergehen müssen? Oder war es so, daß er Angst hatte, weil es ihn rief und daß dieser Ruf erst vor ein paar Tagen übermächtig wurde ...?
Als der Weg am anderen Ende wieder anstieg, machte sein seltsamer Gefährte eine neuerliche Verwandlung durch: Diesmal schien es, als ob eine Schicht Verrücktheit von ihm abfiele. Gil begann zu fragen, wo sie waren und wie lange es noch dauern würde, bis sie oben wären — Fragen, die auch ein ganz normaler Mensch hätte stellen können. Chert konnte es sich nicht erklären und versuchte es gar nicht erst: In den letzten Tagen waren viel zu viele Dinge passiert, die er nicht nur nicht verstand, sondern auch bestimmt nie verstehen würde.
Der Stollen endete schließlich drüben auf dem Festland an einem felsigen Küstenstück, etwa eine halbe Meile nördlich der Stelle, wo der Dammweg begonnen hatte. Als sie wieder ans Tageslicht kamen oder jedenfalls an das, was an diesem trüben, nebligen Nachmittag an Licht vorhanden war, sah Chert die Festung jenseits des Buchtarms liegen wie ein Spielzeug, das ein Riese kunstvoll geschnitzt und im Wasser deponiert hatte, bis er wiederkam. Von hier aus konnte Chert nicht einmal die Wachen auf den Mauern sehen. Die Burg wirkte verlassen, die Fenster so leer wie die Löcher in den Klippen über ihm, wo im Frühling die Seevögel nisteten. Es war kaum vorstellbar, daß es in oder unter dieser Festung überhaupt irgendwelches Leben gab.
Er versuchte, die düsteren Gedanken abzuschütteln. »Wir sind jetzt auf der anderen Seite des Wassers. Wohin jetzt?«
»In die Stadt. Diese unterirdischen Gänge — war ich da schon mal?«
»Ich weiß nicht«, sagte Chert verdutzt. »Ich glaube eher nicht.«
»Sie erinnern mich sehr an ... etwas. Einen Ort, den ich einmal gut gekannt habe.« Erstmals sah Chert eine Gefühlsregung in den Zügen des Mannes, seinen seltsamen Augen. »Aber ich kann es nicht wachrufen.«
Chert konnte nur die Achseln zucken und losmarschieren, den Strand entlang. Bald schon ragten die Stadtmauern über ihnen auf. Vom Dammweg war nur noch der Ansatz übrig, da wo die Marktstraße ans Wasser stieß, und das Meer war leer, soweit der Blick reichte, nur ein paar vertäute Boote dümpelten an den Anlegestegen — ihre Besitzer hatten sich zweifellos auf die Burg geflüchtet, in der Hoffnung, bald wieder zurück zu sein. Ansonsten waren Kais, Hafenschänken und Lagerhäuser leer und verlassen. Es war ein erstaunlicher Anblick, und Chert mußte eine ganze Weile hinstarren; es sah aus, als hätte ein mächtiger Wind alle Menschen hinweggefegt. Wieder packte ihn Angst. Nicht nur sein eigenes Leben, die ganze Welt war aus den Fugen.
Jetzt übernahm Gil die Führung, und der Funderling folgte ihm immer zögernder. Nebel war von den Hügeln herabgekrochen und hatte die Stadt verschluckt, so daß sie selbst auf der
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