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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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gewesen: Ein erdiger Stiefelabdruck hob sich vom weißen Nachthemdrücken ab wie ein religiöses Symbol von einem Büßergewand.
    Qinnitan kämpfte noch gegen die Übelkeit an, als eine mächtige Welle des Schmerzes und der Verzweiflung über sie hinwegspülte. »Oh, Luian ...!« Sie mußte sich abwenden. Wenn sie noch länger hinguckte, würde sie wieder anfangen zu weinen und sich nicht vom Fleck rühren, bis sie kamen, um sie zu töten.
    Als sie gerade hektisch Luians Körbe und Truhen durchwühlte, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Im Herumfahren riß sie schützend die Hände an den Hals, sicher, daß sie in Tanyssas grinsendes, leeräugiges Gesicht blicken würde, aber das Rascheln kam von dem stummen Sklavenjungen, dem Stillen Begünstigten, der ihr Luians Botschaft überbracht hatte und sich jetzt tiefer in die kahle Ecke des Raums zu drücken suchte. Sie war direkt an ihm vorbeigegangen.
    »Du kleiner Idiot! Du kannst hier nicht bleiben!« Sie wollte ihn gerade zur Tür hinausscheuchen, als ihr aufging, daß sie damit vielleicht das einzige fortwarf, was sie noch retten konnte. »Warte! Ich brauche Kleider von dir. Kannst du mir welche holen? Hosen, wie du sie trägst. Und ein Hemd brauche ich auch. Verstehst du?«
    Er sah sie mit angstgeweiteten Augen an wie ein in der Falle sitzendes Tier, und ihr wurde klar, daß er Luians Ermordung mit angesehen hatte. Dennoch, für Mitleid hatte sie keine Zeit.
    »Verstehst du mich? Ich brauche diese Kleider jetzt, sofort! Dann kannst du gehen. Sag niemandem, daß du hier warst!« Qinnitan mußte beinah über ihre eigene Torheit lachen. »Natürlich wirst du's niemandem sagen — du kannst ja nicht sprechen. Egal. Geh jetzt!«
    Er zögerte. Sie packte seinen dünnen Arm und zog ihn hoch, gab ihm einen Schubs. Er rannte zur Tür hinaus, so tief geduckt, daß seine Hände fast über den Boden schleiften, als müßte er ein Schlachtfeld überqueren, wo die Luft von Pfeilen schwirrte.
    Sie suchte weiter und fand gleich darauf Luians Stickkörbchen. Sie nahm die Schere mit den Edelsteingriffen heraus — ein Geschenk von Cusy, der Königin der Begünstigten, und daher kaum je benutzt — und machte sich daran, ihr langes, schwarzes Haar abzuschneiden.
    Als sie die Kleider entgegengenommen und sich bedankt hatte, wollte der Junge nicht gehen. Sie schubste ihn wieder, doch diesmal stemmte er sich dagegen. »Du
mußt
gehen! Ich weiß, du hast Angst, aber hier darf dich niemand finden.«
    Er schüttelte den Kopf, und obwohl in seinen Augen immer noch Entsetzen stand, schien es doch nicht der einzige Grund für sein Sträuben zu sein. Er zeigte in den anderen Raum hinüber — durch die offene Tür sah sie die bloßen Füße, als ob Luian sich nur für ein Nickerchen auf den Boden gelegt hätte —, dann auf sich, dann auf Qinnitan.
    »Ich versteh dich nicht.« Sie geriet wieder in Panik. Sie mußte von hier verschwinden und zwar schnell. Es war mehr als wahrscheinlich, daß Tanyssa bereits in ihrem Zimmer gewesen war und jetzt im ganzen Frauenpalast nach ihr suchte, vielleicht sogar schon Alarm geschlagen hatte. »Gehl Geh zu Cusy oder einer anderen hohen Begünstigten! Lauf!«
    Er schüttelte wieder vehement den Kopf, und wieder zeigte er auf den Leichnam, auf sich selbst, abermals auf Luian. Er sah sie flehend an und mimte dann etwas, was sie nach kurzem Rätseln als die Bewegung des Schreibens identifizierte.
    »Oh, heilige Bienen! Du meinst, sie werden dich auch töten? Wegen der Briefe?« Sie starrte ihn an und verfluchte Luian, obwohl es gegen die Gesetze der Barmherzigkeit verstieß, die Toten zu verunglimpfen, ehe Nushash über sie geurteilt hatte. Luian hatte sie alle ins Unglück gestürzt, Luian und dieser gutaussehende, größenwahnsinnige Jeddin. Schlimm genug, was die beiden ihr angetan hatten, aber diesem armen, stummen Jungen ...! »Gut«, sagte sie nach einer Weile. Sie dachte daran, was Jeddin in diesem Moment wohl durchmachte, und ihr Zorn erstarb wie eine gelöschte Kerze. »Dann kommst du mit mir. Aber zuerst hilf mir, diese Kleider anzuziehen und die abgeschnittenen Haare zu beseitigen. Verbrennen können wir sie nicht, weil jeder den Geruch erkennen würde, also müssen wir sie in den Abtritt werfen. Und noch etwas — wir brauchen Luians Schreibzeug.«
     
    Der Junge bewies sofort, was er wert war, indem er sie durch einen Nebengang führte, von dessen Existenz sie gar nichts gewußt hatte. So umgingen sie den Garten der Königin Sodan, der nach dem

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