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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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umherhastenden Großwüchsigen wirkten noch zerstreuter als sonst, und zunächst fand er es ein wenig seltsam, daß sich niemand dafür interessierte, was ein einsamer Funderling auf der Burg zu suchen hatte. Dann fiel ihm wieder ein, daß ja heute Winterfest war, der Abend vor dem Tag des Waisen, einem der wichtigsten Feiertage der Großwüchsigen. Trotz der Kriegsangst schienen sie Vorbereitungen für ein Festmahl und andere Belustigungen getroffen zu haben: Chert sah mehrere Grüppchen von Höflingen in noch aufwendigerer Kostümierung als sonst, und drei junge Mädchen schienen als Gänse oder Enten verkleidet.
    Der Mann namens Gil saß, so reglos wie eine Statue, in einem Fleckchen schwacher Morgensonne, als Chert endlich den Garten wiedergefunden hatte. Chert fragte sich, ob der Fremde die ganze Nacht auf der Bank gewartet hatte, ohne Rücksicht auf die Winterkälte und die Feuchtigkeit.
    Gil sah ihn einfach nur an, als wären nicht Stunden vergangen, als hätten sie ihr Gespräch eben erst unterbrochen. »Dann werden wir jetzt gehen«, sagte er und erhob sich ohne jedes Anzeichen von Gliedersteife. Er hatte im Gegenteil eine seltsam anmutige Art, sich zu bewegen, und das, was zunächst wie Langsamkeit und Schwerfälligkeit gewirkt hatte, erwies sich bald als die Kunst, keine überflüssige Energie zu verausgaben, so als wäre bei ihm noch die banalste Aktivität sorgsam geplanter Teil eines komplizierten Tanzes.
    »Moment mal.« Chert blickte sich um, aber der Garten schien einer der wenigen Orte in der Burg, wo sich niemand entweder für den Belagerungsfall oder für die Festlichkeiten rüstete. »Wir können nicht einfach zum Basiliskentor hinausspazieren. Südmarksburg ist im Krieg. Die Wachen werden uns nicht durchlassen. Ganz abgesehen davon, daß der Dammweg zerstört ist. Ihr sagt, wir müssen in die Stadt hinüber — dafür brauchen wir ein Boot, und die Bucht ist heute gefährlich. Die Leute sagen, daß Sturm kommt.«
    Gil sah ihn an. »Was heißt das?«
    Chert stöhnte gequält. »Das heißt, daß Ihr diesen Teil nicht besonders gründlich durchdacht habt, das heißt es. Wir müssen einen anderen Weg finden. Fliegen könnt Ihr ja wohl nicht, oder? Wohl kaum. Dann müßt Ihr mit mir in die Funderlingsstadt kommen. Dort gibt es Stollen — alte Straßen, Geheimwege — unter der Bucht hindurch. Selbst wir benutzen sie kaum noch. Die können wir nehmen, oder wir können es zumindest versuchen.«
    Gil sah ihn immer noch an, setzte sich dann hin. »Ich kann nicht hinunter in die Funderlingsstadt, wie Ihr sie nennt. Das ist zu nah an den tiefen Stätten — an dem, was Ihr den Leuchtenden Mann nennt. Ich ... ich kann da nicht hin.«
    »Dann stehen wir ohne Werkzeug vor dem harten Fels.« Wieder wünschte Chert, Chaven wäre nicht verschwunden. Seltsame Fremde und magische Spiegel! Die Mysterien, die zum Leben erwachten! Der rundliche Hofarzt wüßte dazu sicher etwas Hilfreiches zu sagen — das wußte er immer ... »Moment mal«, sagte Chert. Er überlegte. »Das Mädchen hat mir gesagt, Ihr wohnt im Kerker der Festung. Das ist doch auch unter der Erde.«
    Gil nickte langsam. »Aber wohl nicht so tief. Dort fühle ich es nur ein kleines bißchen.«
    »Ich weiß einen Weg, der auch nicht so tief hinuntergeht, jedenfalls zunächst nicht. Wir können uns weit genug vom Leuchtenden Mann entfernen, wenn es wirklich das ist, was Ihr fürchtet, und dann erst tiefer hinabsteigen. Folgt mir.«
    Während er den Fremden durch die Hauptburg führte, jetzt erstmals sicher, was den Weg anbelangte, versuchte er sich zurechtzulegen, was er Chavens Haushälterin sagen würde. Oder diesem Diener — wie hieß er noch mal, dieser mißtrauische alte Mann? Henrik? Würde er ihnen weismachen können, daß er etwas Wichtiges holen mußte, so daß sie ihn unbeaufsichtigt durchs Haus gehen lassen würden? Er glaubte nicht, daß sie etwas von dem Stollen und der Tür drunten im Kellergang wußten.
    Er feilte immer noch an seinem Plan, als sie den gedrungenen Observatoriumsturm erreichten, aber die Geschichte, die er sich zusammengezimmert hatte — daß Chaven eine wichtige Gesteinsprobe für ihn untersucht habe, die er jetzt jedoch dringend brauche —, sollte gar nicht zur Anwendung kommen. Auf sein Klopfen reagierte niemand. Chert rüttelte an der Tür, um sicherzugehen, daß sie verschlossen war. Auf der Schwelle abgelagerter Dreck war von Nebel und Nieselregen in eine dünne Schlammschicht verwandelt worden, die keinerlei

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