Die Grenze
Abendessen mit Sicherheit voller Ehefrauen und Dienerinnen war, zumal an einem so warmen Abend. Sie begegneten nur einer einzigen Person, einer Haketani-Ehefrau oder -Dienerin mit einer Lampe — der Stand der Haketani-Frauen war schwer zu erkennen, weil sie alle Gesichtsschleier trugen und prunkvolle Kleider ablehnten. Die verschleierte Frau ging ohne jede Reaktion an ihnen vorbei, ja nickte nicht einmal, was Qinnitan selbst in dieser verzweifelten Situation ärgerte, bis ihr aufging, daß die Frau ja nur zwei Sklavenjungen sah, die sie, ganz gleich, welchen Standes sie selbst war, niemals eines Grußes würdigen würde.
Ich sollte den heiligen Bienen danken statt zu grollen.
Je näher sie dem Lilientor des Frauenpalasts kamen, desto schneller schlug ihr Herz. Abgeschnittene Haare wanderten ihren Rücken hinab und juckten noch zusätzlich unter dem ohnehin schon kratzigen Stoff des Jungenhemds, aber das war ihr geringstes Problem. Jetzt waren viele Leute auf den Gängen, Dienerinnen, die Einkäufe für ihre Herrinnen zu tätigen hatten, Sklavinnen mit voluminösen Bündeln auf Kopf oder Schulter, manche sogar mit kleinen Wägelchen, eine Händlerin mit einem Papageienkäfig auf Rädern, eine Begünstigten-Ärztin und eine Begünstigten-Apothekerin auf dem Weg zum Markt, um das Kräuterangebot zu inspizieren, und obwohl jede Person Qinnitans Nervosität verstärkte, sagte sie sich doch auch, daß in diesem Gewimmel wohl niemand zwei Sklavenjungen beachten würde und daß schon gar niemand auf die Idee kommen würde, einer dieser Jungen könnte eine Braut des Lebenden Gottes sein.
Dennoch mußte sich Qinnitan sehr beherrschen, um sich brav in der Vorhalle auf der Palastseite des Tors anzustellen, während ihr sämtliche Instinkte befahlen, sich durch die Menge zu zwängen und in die Freiheit hinauszustürmen — sollten sie doch erst einmal versuchen, sie zu fangen! Sie bemühte sich, ruhig zu atmen, versuchte daran zu denken, was sie draußen tun würde. Kleine Finger umfaßten ihre Hand, und sie sah zu dem Jungen hinab. Trotz seiner angstvoll geweiteten Augen nickte er und lächelte tapfer, als wollte er ihr versichern, daß alles gut würde.
»Ich weiß deinen Namen gar nicht«, flüsterte sie. »Wie heißt du?«
Sein Mund verzog sich gequält, und sie kam sich grausam vor — wie sollte er es ihr sagen? Dann lächelte er wieder und hob die Hände.
Er schlang die Daumen umeinander, die Finger nach beiden Seiten weggestreckt, bewegte dann die Finger wie ... Flügel. »Vogel?«
Er nickte freudig. »Du heißt Vogel?«
Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, zeigte dann an die Balkendecke. Hier, so nah beim Tor, waren in einigen schattigen Winkeln Überreste von Nestern zu erkennen. Vögel sah sie nirgends. »Nest?« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ein bestimmter Vogel? Ja? Fink? Star? Spatz?«
Er ergriff wieder ihre Hand, drückte sie und nickte vehement.
»Spatz? Du heißt Spatz. Danke, daß du mir geholfen hast, Spatz.« Sie sah auf und bemerkte, daß sie schon fast am vorderen Ende der Schlange waren, die dort, wo drei massige Begünstigten-Wächter standen, ganz schmal wurde. Das Lilientor war nur noch wenige Schritte entfernt, glomm vom Laternenschein draußen wie ein magisches Tor aus einem Märchen. Zwei der Wächter waren damit beschäftigt, den Karren einer Hökerin zu durchsuchen, ehe sie sie wieder in die Stadt hinausließen — die Frau, die im Vergleich zu den mächtigen Begünstigten winzig wirkte, machte ein so demonstrativ ausdrucksloses Gesicht, daß es als solches schon fast unverschämt war —, aber der dritte hatte alle Zeit der Welt, Qinnitan und ihren Begleiter zu überprüfen.
»Wohin wollt ihr ... ?« hob er an, aber Spatz unterbrach ihn, indem er Grunzlaute von sich gab. »Ah, eins von den zungenlosen Bürschchen. In wessen Auftrag?«
Qinnitans Magen ballte sich zusammen. Sie hatte sich so viel Mühe mit dem gefälschten Brief gemacht und darüber ganz vergessen, daß sie ja auch eine Erlaubnis vorzeigen mußten, den Frauenpalast zu verlassen — Sklaven und selbst die vergleichsweise hochstehenden Stillen Begünstigten durften nicht einfach nach Belieben aus- und eingehen.
Einen Wimpernschlag, ehe sie einfach losgestürzt wäre, griff der Junge in die Tasche, zog einen fingerlangen silbernen Gegenstand hervor und zeigte ihn dem Wächter. Qinnitan schlug das Herz im Halse. Wenn das Luians Siegelstempel war und die Kunde sich bereits verbreitet hatte ...
»Ah, für die alte
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