Die Grenze
Winters.
»Sein Herz, das tot sie wähnt, will nicht verstehn,
Daß, eh sie noch geküßt, eh noch im Bildnis sie bewahrt,
Solch zarter Jugend Blüte muß vergehn.
Sie aber schlägt die Augen auf und lächelt hold,
Obwohl ihr Antlitz doch so traurig und so bleich
Wie eine Perle, eingebettet in des Haares Gold,
Und keine Herrscherin käm ihr an Liebreiz gleich.
Da fliegt ihr wie ein Falk sein Herz entgegen,
Ohn daß der Ritter weiß, ob's Fluch ist oder Segen.«
Sie mußte zugeben, sie war erstaunt, nicht nur darüber, daß Puzzle immer noch singen konnte, sondern auch über Matt Kettelsmits wohlgeratene Verse. Der junge Dichter saß am Ende eines der vordersten Tische, gleich bei Puzzles Vortragsschemel, und sah aus, als wüßte er, daß er tatsächlich etwas Ansprechendes geschaffen hatte.
Es war allemal etwas anderes als diese erbärmlichen Lobgesänge mit ihren bemühten Zorienvergleichen und gewaltsamen Reimen — es gab schließlich nicht viel, was sich auf »Zoria«, »barmherzig« oder »Göttin« reimte. Sie war beeindruckt, ja regelrecht angetan. Sie hatte Kettelsmit das Plätzchen am Hof hauptsächlich gewährt, um Barrick zu ärgern und sich ein wenig zu amüsieren, aber vielleicht erwies er sich ja irgendwann doch noch als ein wahrer Poet.
Es sei denn,
dachte sie plötzlich,
er hat das Ganze aus irgendeiner obskuren Quelle gestohlen.
Nein, es war Winterfest. Sie würde mildherzig sein. Sie würde ihm sogar etwas Freundliches sagen — nicht so freundlich allerdings, daß er den ganzen Abend wie ein Hündchen an ihr hängen würde.
»Treu Caylor ihr gelobt für alle Zeit,
Schwört, Welten zu bezwingen, so dieses ihr Gebot,
Doch schüttelt matt das Haupt nur die betrübte Maid,
Hebt weiße Hände in der Ärmel Rot,
Spricht: ›Welten nicht noch Worte rühren mich,
Doch heilt die Wunde, aus der meine Kräfte fließen,
Und ich bin Euer. Rabe, Fürst der Vögel, rächte sich
Mit seinem grimmen Dolch, als ich ihn abgewiesen,
Und diese Wund in meiner Brust, dies blutigrote Quillen,
Vermag kein Kraut, kein Arzt an meines Vaters Hof zu stillen.‹«
Briony lächelte sogar Puzzle zu, der es kaum wahrnahm. Er genoß diesen Moment der Beachtung so sehr, daß er ganz zu vergessen schien, wem er seine Stellung verdankte: der königlichen Familie, nicht dem Hofstaat, der den alten Mann für eine eher lästige Institution hielt. Trotzdem ruhten jetzt alle Blicke auf ihm oder hätten es zumindest sollen, und er schwelgte sichtlich darin.
Die restliche Versammlung erschien Briony bizarr. Es wollte keine ungezwungene Unterhaltung aufkommen, viele flüsterten, andere sprachen selbst für einen vorgerückten Festmahlsabend zu laut. Die Tollys und ihre Verbündeten hatten deutlich gemacht, daß solche Festlichkeiten in ihren Augen Gailons Andenken herabwürdigten, und waren nicht erschienen. So war an diesem Abend noch mehr getrunken worden als an Winterfestabenden ohnehin üblich. Glühwein wurde die Kehlen hinuntergestürzt, als ob die Mehrzahl der Anwesenden mit dem Schlimmsten rechnete und zwar schon bald — Gerüchte über das mögliche Schicksal des markenländischen Heeres verbreiteten sich schon den ganzen Abend wie ein Lauffeuer in der Festung, Visionen von Greueln und Verderben flatterten in jeden Winkel wie kleine weiße Motten, die aus einem lang nicht geöffneten Kleiderschrank stoben. Briony selbst hatte Rose und Moina in Tränen aufgelöst gefunden, gewiß, daß sie von Ungeheuern geschändet werden würden.
Ja, sie waren sich ja auch sicher, daß Dawet und seine Hierosoliner sie schänden würden,
dachte Briony bitter.
In jener Nacht. Und sie waren wahrhaftig keine große Hilfe, weder mir noch sonst jemandem ...
Sie wollte nicht weiter an Kendricks Tod denken, hielt statt dessen die Erinnerung an Dawet dan-Faar fest. Umgeben von geröteten, glühweintrunkenen Gesichtern sehnte sie sich plötzlich nach seiner Gesellschaft. Nicht in einem romantischen Sinn — sie sah sich um, als könnte schon der bloße Gedanke für ihre Umgebung offenkundig gewesen sein, aber die Adligen waren ganz damit beschäftigt, sich Talgpudding von den Fingern zu lecken und nach mehr Wein zu rufen. Nein, es wäre einfach nur seines wachen Verstandes wegen ein Vergnügen gewesen. An Dawet war nichts Verwaschenes und Verschwommenes, er war immer so präzise wie eine Messerklinge. Wahrscheinlich trank er überhaupt nicht, und selbst wenn, hatte ihn wohl kaum je jemand dadurch beeinträchtigt gesehen ...
Oh, bei den
Weitere Kostenlose Bücher