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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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Göttern, was sollen wir tun? Wie sollen wir uns retten?
Es bedrängte sie schon die ganze Zeit, seit Brone ihr die schlechten Neuigkeiten mitgeteilt hatte, und sie konnte es nicht länger zurückdämmen. Daß Barrick etwas passiert sein könnte, daran durfte sie gar nicht denken. Aber daß Tyne Aldritch und sein Heer gescheitert waren, mußte sie als Möglichkeit in Betracht ziehen. Und was dann? Wie sollten sie und ihre Edelleute einer Belagerung durch eine so mysteriöse Streitmacht trotzen?
    Ihre Gedanken wanderten unablässig von denjenigen, die an der Tafel fehlten — nie hätte sie sich vorstellen können, sich an einem Winterfestabend so allein und verlassen zu fühlen —, zu dem unheimlichen Feind, den jetzt nur noch der schmale Buchtarm von ihrer geliebten Südmarksfeste zu trennen schien, und wieder zurück. Plötzlich jedoch fiel ihr ein, daß sie ja versprochen hatte, heute abend ihre Stiefmutter Anissa zu besuchen. Ihr erster Impuls war, eine Dienerin zu ihr zu schicken und sich entschuldigen zu lassen, doch als sie sich im Saal umblickte und die abstoßenden, übertrieben fröhlichen Gesichter derer sah, die sich noch aufrecht halten konnten, als ihr Blick über die Tische glitt, die, mit Knochen, Hautfetzen und Rotweinpfützen übersät, wie ein Schlachtfeld wirkten, da befand sie, daß jetzt nichts besser wäre als ein Spaziergang an der frischen Luft und daß ein Besuch bei ihrer bettlägerigen Stiefmutter, die demnächst ihr Kind zur Welt bringen würde, dafür wohl der beste Vorwand war.
    Mit einiger Mühe gelang es ihr sogar, ein klein wenig Mitgefühl mit Anissa aufzubringen: Wenn sie selbst, die sie die Zügel der Regentschaft in Händen hielt, sich schon so hilflos fühlte, wieviel schlimmer mußte es dann für ihre Stiefmutter sein, die hochschwanger darniederlag und den widerstreitenden Gerüchten ausgesetzt war, die in ihren Turm flatterten?
    Träger Applaus und einige wenige trunkene Hochrufe rüttelten sie auf: Der Gesangsvortrag war beendet. Etwas beschämt merkte Briony, daß sie das meiste verpaßt hatte.
    »Sehr schön«, sagte sie laut und klatschte. »Wohl gesungen, guter Puzzle. Eine der besten Darbietungen seit langem.«
    Der alte Mann strahlte.
    »Schenk ihm ein«, wies sie einen Pagen an. »Solch prächtiger Gesang muß durstig machen.«
    »Ich will das Verdienst nicht für mich allein in Anspruch nehmen«, erklärte Puzzle, während er die Hand nach dem Becher ausstreckte. »Ich wurde unterstützt ...«
    »Von Meister Kettelsmit, ja, das sagtet Ihr bereits. Und auch ihm sei gesagt, gut gemacht. Ihr habt einer teuren alten Sage neues Leben eingehaucht.« Sie versuchte sich zu erinnern, wie die Geschichte von der verwundeten Maid ausging, in der Hoffnung, daß Kettelsmit nicht irgendeine neuartige Version geschaffen hatte, was ihre Unaufmerksamkeit aufs peinlichste entlarven würde. »Wie Caylor habt Ihr das Lied gefunden, das die schreckliche Tat des Rabenfürsten ungeschehen macht.«
    Offenbar hatte sie es getroffen. Kettelsmit sah sie an, als wollte er sich vor ihr zu Boden werfen und ihr Fußschemel werden.
    Ja, aber darauf findet er auch keinen Reim,
dachte sie. Alte Gewohnheiten ließen sich nicht so leicht durchbrechen.
    Sie erhob sich unter mächtigem Stoffgeraschel und sagte: »Ich muß jetzt gehen und meiner Stiefmutter, Königin Anissa, meine besten Wünsche zum Winterfest überbringen.« Die, die noch dazu fähig waren, mühten sich ebenfalls hoch. »Bitte, setzt Euch. Das Festmahl ist noch nicht vorbei. Diener, sorgt, bis ich wiederkomme, dafür, daß der Wein fließt, damit unsere Gäste die Wärme feiern, die der Waisenknabe zurückgebracht hat. Denkt alle daran, keine Zeit ist so finster, daß sie nicht die Sonne wiederkehren sieht.«
    Götter, bewahrt mich,
dachte sie, während sie in dem gewaltigen Reifrock zur Tür rauschte.
Ich rede schon wie eine Figur aus Kettelsmits Feder.
    Heryn Millward, der Bursche aus Sutterwall, war einer der beiden Wachsoldaten, die sie an diesem Abend begleiteten. Der andere war ein wenig älter, stoppelbärtig und schweigsam. Sie dachte daran, beiden alles Gute zum Winterfest und zum morgigen Feiertag zu wünschen — die Höflichkeit bewahrte sie davor, ungeduldig zu werden, weil die Wachen so langsam gingen, beschwert durch ihre Rüstungen und Hellebarden.
    Sie hatte gerade den äußeren Hof durchquert und war schon fast bei Anissas Gemächern im Frühlingsturm angelangt, als plötzlich eine Gestalt vor ihr aus dem

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