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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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sie gegen ihn prallten, fiel er rückwärts um. Er wälzte sich einen Moment fluchend am Boden, ehe er sich aufrappelte.
    »ihr Früchtchen, ihr Hündchen, ich reiße euch die Eingeweide aus dem Leib!« schrie er. »Ich werde Euch abstechen und ausweiden!« Er war jetzt wieder auf den Beinen und hinter ihnen her, und obwohl sie mindestens ein Dutzend Schritte Vorsprung hatten, schien er, als Qinnitan kurz zurückguckte, schnell aufzuholen.
    »Wohin?« keuchte sie, aber Spatz schien es auch nicht zu wissen und nicht mehr tun zu können, als neben ihr herzurennen. Der Junge war schneller als sie, das merkte sie, aber er blieb an ihrer Seite und hielt noch immer ihre Hand.
Was stand in Jeddins Brief — ein Tempel? Das Boot liegt bei einem Tempel? Aber welchem Tempel?
    Sie bogen jetzt aus der Segelmacherstraße in die Hafenanlagen ein, und die Schritte ihres Verfolgers dröhnten nicht weit hinter ihnen auf den Holzbohlen. Qinnitan wäre fast stehengeblieben, so einschüchternd war der Anblick der Hunderte und Aberhunderte von Masten — Schiffe und Boote meilenweit, so schien es, alle in einer fließenden Bewegung auf den leisen Abendwellen schaukelnd, die den Kai entlangliefen. Die Schritte wurden lauter, und sie spurtete wieder los.
    »Ihr kleinen Miesmuscheln!« keuchte der Mann. Er schien fast auf ihrer Höhe, und Qinnitan mobilisierte ihre letzten Kräfte. »Ich
esse
kleine Miesmuscheln!«
    In ihrer Verzweiflung rief sie, so laut sie konnte: »Hallo,
Morgenstern! Morgenstern!
Wo ist die
Morgenstern?«,
bis ihr die Luft ausging. Es kam keine Antwort, obwohl sie auf einigen der dunklen Schiffe Bewegung zu erkennen glaubte.
    Sie rannten jetzt alle drei schweigend dahin. Der Mann atmete schwer, wurde jedoch nicht langsamer.
»Morgenstern!«
schrie Qinnitan. »Wo?«
    »Nur ein paar Liegeplätze weiter«, rief jemand von einem der Boote herüber.
    Qinnitan stolperte, aber Spatz hielt sie aufrecht.
»Morgenstern!«
schrie sie wieder oder versuchte es jedenfalls, aber ihre Stimme war leise und matt, und ihre Beine fühlten sich so weich an wie Kissen. Sie konnte kaum noch Atem holen.
»Morgenstern!«
    »Hier!« rief eine Stimme kurz vor ihnen. »Wer da?«
    Qinnitan zerrte Spatz eine Landungsplanke hinauf, von der sie hoffte, daß es die richtige war. Ihr Verfolger blieb stehen, zögerte kurz, drehte sich dann um und verschwand mit ein paar taumelnden Schritten im Schattendunkel. Qinnitan lehnte keuchend an der Reling, und die Sterne schienen vom Himmel herabzuschweben und wie Funken um sie zu tanzen. Da waren Masten und Takelwerk wie ein mit Spinnweben verhangener Wald, aber das einzige, was sie wirklich wahrnahm, war die sengende Luft in ihrer Lunge.
    Rauhe Hände packten sie, richteten sie auf, hielten ihr eine Laterne ins Gesicht. »Wer bist du? Du schreist ja, als wolltest du die Toten auferwecken.«
    »Ist das ... ist das hier die
Morgenstern von Kirous?«
keuchte sie.
    »Ist es. Und wer oder was seid ihr?« Sie glaubte, zusammengekniffene Augen und einen dunklen Bart hinter der Laterne zu erkennen, aber es war schwer, ins Licht zu gucken.
    »Wir kommen ... von Jeddin.« Dann gaben ihre Knie nach, die Welt drehte sich, und die Masten wirbelten im Kreis wie eine Tänzertruppe, während sie in graues und dann schwarzes Nichts fiel.

    »Man hat uns gesagt, wir sollten damit rechnen, daß Ihr kommt — wenn auch als Frau und nicht als Sklavenjunge«, sagte Axamis Dorza, der Kapitän der
Morgenstern.
Er hatte sie in die winzige Kajüte geführt. Spatz saß zu Qinnitans Füßen, stumm und weitäugig. »Man hat uns sogar gesagt, es könnte sein, daß wir Euch kurzfristig wegbringen müßten.« Jetzt wedelte er mit dem gefälschten Brief, den sie in Luians Gemach verfaßt und mit Jeddins Siegel versehen hatte. »Man hat uns
nicht
gesagt, daß wir ohne unseren Herrn ablegen sollten. Was wißt Ihr darüber?«
    Sie sprach im stillen ein Dankgebet an die heiligen Bienen: Offenbar hatten die Seeleute noch nichts von Jeddins Verhaftung gehört. Jetzt war der Zeitpunkt da, die Verstellungskünste, die sie im Frauenpalast gezwungenermaßen erlernt hatte, anzuwenden. »Ich weiß nicht, Kapitän. Ich weiß nur, daß mir Jeddin gesagt hat, ich solle mich verkleiden, mit diesem Sklaven hier zur
Morgenstern
gehen und Euch diese Botschaft übergeben.« Es war wichtig, ermahnte sie sich, nicht zu wissen, was in Jeddins angeblichem Brief stand. »Sonst weiß ich leider nichts. Ich bin nur froh, daß wir Euch gefunden haben, ehe der Mann, der

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