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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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unterhalb des Kinns arbeiten sah, während der Fremde an Gil hinauf- und hinunterblickte, wurde ihm ein für allemal klar, daß es keine Maske war, sondern lebendiges Fleisch.
    »Sein Name ist Gyir, das Sturmlicht«, erklärte Gil plötzlich. »Er sagt, wir sollen ihm folgen.«
    Chert lachte, ein künstliches Lachen, selbst in seinen eigenen Ohren. Wenn er nicht verrückt war, dann war Gil verrückt geworden — oder die Welt. »Er
sagt?
Er hat doch gar keinen Mund!«
    »Er spricht. Vielleicht fühle ich ja seine Worte nur in mir. Hört Ihr ihn nicht?«
    »Nein.« Chert war todmüde. Seine Gliedmaßen fühlten sich an, als ob gelöste Mineralien in seine Knochen eingesickert wären und sie in massiven Stein verwandelt hätten. Als der gesichtslose Reiter sein Pferd zur Stadt hin wendete und die Wachen Chert mit ihren Speeren anstießen, marschierte er los, aber trotz der Pikenspitzen in seinem Rücken wollte und konnte er sich nicht schnell bewegen.

    Der Drei-Götter-Platz war ringsherum mit dunklen Tüchern verhängt, so daß selbst im Licht der vielen Fackeln die umliegenden Gebäude hinter düsteren Schleiern verborgen waren. Sie saß auf einem Stuhl vor der Tempeltreppe, einem schlichten, hochlehnigen Stuhl aus irgendeinem Kaufmannshaus, dem sie die furchteinflößende Würde eines Throns verlieh.
    Sie war so groß wie Gyir, sah aber mehr oder weniger normal aus; sie war auf eine seltsam verzerrte Weise schön, die Flächen ihres braunen Gesichts und die glimmenden Augen wirkten aus den meisten Blickwinkeln beinahe menschlich. Doch dann — wenn sie den Kopf neigte, um auf irgendein Geräusch zu horchen, das Chert nicht hören konnte, oder den Blick über ihre Legionen schweifen zu lassen, die geduldig am Boden saßen — hatte sie plötzlich etwas viel zu Extremes, als daß man sie auch nur von weitem für einen Menschen hätte halten können. Wie etwas, das man durch tiefes Wasser oder dicken, klaren Kristall sah.
    Sie war kriegerisch gekleidet, in eine schwarze Plattenpanzerrüstung, die fast überall, vor allem aber auf Schultern und Rücken, von erschreckend langen Stacheln starrte, so daß ihre Figur von weitem kaum auszumachen war. Jetzt, da Chert vor ihr kniete, war ihm klar, daß sie zwei Arme, zwei Beine und einen schlanken, weiblichen Körper hatte, doch als er schließlich all seinen Mut zusammennahm und zu ihr aufsah, konnte er nicht lange hingucken — irgend etwas an ihr, eine rohe, schreckliche Kraft, stieß seinen Blick gleich wieder ab.
    Yasammez hatte Gil sie genannt, als er auf seine schlafwandlerische Art vor ihr aufs Knie gesunken war. Seine einstige Herrin, hatte er vorhin gesagt. Seit seiner ehrerbietigen Begrüßung hatte er kein Wort mehr an sie gerichtet und sie keins an ihn.
    Die hochgewachsene Frau mit den dicken schwarzen Haarlocken hob jetzt eine behandschuhte Hand und sagte etwas in der fremdartigen Sprache. Ihre Stimme war so tief wie die eines Mannes, aber auf getragene Art melodisch. Chert fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten.
Das ist alles nur ein Albtraum,
versuchte ein Teil von ihm zu erklären, was nicht sein konnte, aber dieser Teil war irgendwo verschüttet, und er hörte ihn kaum.
Ein Albtraum. Du wirst gleich aufwachen.
    »Sie will den Spiegel«, sagte Gil und erhob sich.
    Es kam ihm gar nicht in den Sinn, sich zu widersetzen. Chert kramte das Rund aus Bein und silberbedampftem Kristall hervor, hielt es von sich. Die Frau nahm es nicht; es war Gil, der es von Cherts Hand klaubte und ihr mit einer neuerlichen Verbeugung reichte. Sie hielt es ins Fackellicht, und einen Moment lang meinte der Funderling, Zorn oder etwas ganz Ähnliches über ihr karges, steinernes Gesicht flackern zu sehen. Sie sagte wieder etwas, eine lange Abfolge von Klicklauten und Gemurmel.
    »Sie sagt, sie wird ihren Teil des Paktes einhalten und den Spiegel nach Qul-na-Qar schicken, und vorerst würden keine Menschen mehr getötet, es sei denn, ihr Volk müßte sich verteidigen.« Gil hörte ihr wieder zu, antwortete dann, jetzt schon flüssiger, in derselben Sprache.
    »Sie spricht mit mir, als ob ich der König persönlich wäre«, sagte Gil leise zu Chert. »Sie sagt, durch den Erfolg seines Tuns hätte ich den Menschen einen kurzen Aufschub erwirkt. Ich habe ihr gesagt, daß der König durch mich spricht, aber nur aus der Ferne, daß ich nicht er bin.«
    König? Ferne?
Chert hatte nicht die leiseste Ahnung, was das alles bedeutete. Es war alles so seltsam und so schrecklich, daß ihm

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