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Die Grenze

Die Grenze

Titel: Die Grenze Kostenlos Bücher Online Lesen
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einfiel oder jemand kam, um sie zu retten. »Habt Ihr den Verstand verloren?« Aber es würde niemand kommen, das war ihr klar. Deshalb hatte er ja den Wächter erstochen und vor ihren Augen sterben lassen — um ihr ihre Hilflosigkeit vor Augen zu führen. Der jüngste Tolly war wie eine Katze, die es liebt, mit der in die Enge getriebenen Beute zu spielen, und auf dieses Spiel hatte er sein Leben lang gewartet.
    »Briony, kleine Briony.« Er schüttelte den Kopf wie ein liebevoller Onkel. »Du warst so wütend auf meinen Bruder Gailon, weil er dich heiraten und eine anständige Frau aus dir machen wollte, statt der eigensinnigen, kleinen Schlampe, zu der dich dein Vater hat werden lassen. Hast ihn für ein böses Monstrum gehalten. Aber in Wirklichkeit war er das einzige, was meinem Bruder Caradon und mir im Wege stand — und unseren Plänen, was Südmark anbelangt.«
    »Ihr ... Ihr habt Gailon getötet?«
    »Gewiß doch. Er war von Anfang an gegen unsere Verhandlungen mit dem Autarchen — er hat sich deswegen sogar mit Kendrick gestritten, noch in der Nacht, in der dein Bruder starb. Caradon und ich, wir hatten uns selbst mit Kendrick ins Benehmen gesetzt, weil wir wußten, Gailon würde es nicht tun, und wir hatten ihm versprochen, daß der Autarch, gegen ein paar kleine Konzessionen, was die Souveränität gewisser südlicher Territorien angeht, für die Freilassung eures Vaters sorgen würde. Kendrick hatte beschlossen, auf das großzügige Angebot unseres xixischen Verbündeten einzugehen.«
    »Das hätte mein Bruder niemals getan!«
    »O doch, er hat es getan oder zumindest vorgehabt. Seine Ermordung hat alles ruiniert — ein so profitables Geschäft, jedenfalls für Caradon und mich. Und für den Autarchen wohl auch.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist mir immer noch ein Rätsel — ich verstehe nicht, was es mit dieser devonisischen Dienstmagd auf sich hat und welche Rolle sie bei all dem gespielt hat.«
    Briony wollte ihn noch etwas fragen, einfach nur, um ihn am Reden zu halten — sie war im Moment viel zu schockiert und verängstigt, um viel von dem zu verstehen, was Hendon Tolly sagte —, aber er gebot ihr mit einer Handbewegung Schweigen und nickte seinen Wachen zu.
    »Genug«, sagte er. »Tötet sie schnell. Wir müssen immer noch diesen elenden Wicht von einem Arzt finden.«
    »Damit kommt Ihr nie durch.«
    Tolly lachte, aufrichtig vergnügt. »Aber gewiß doch. Ihr Eddons redet immer von heiligen Banden und von der Liebe eures Volkes, aber so funktioniert die Welt nicht, auch wenn ihr es noch so gern hättet. Eure treuen Untertanen werden euch binnen Monaten vergessen, wenn nicht sogar binnen Tagen. Jemand muß doch jetzt Anissas neugeborenes Kind beschützen — den letzten Erben. Es ist übrigens ein Junge. Die Hebamme ist jetzt bei ihr. Die arme Anissa ist durch die Geschehnisse dieser Nacht sehr verwirrt, aber ich werde ihr bald alles erklären.« Er grinste wieder, jetzt jedoch spöttisch übertrieben. »Bis dahin bist du leider durch Shasos Hand gestorben, eine tragische Wiederholung des Schicksals deines Bruders, und Shaso ist durch meine Hand gestorben, oder jedenfalls wird es sich so darstellen. Denn sobald wir diesen fetten Arzt gefunden und getötet haben, wird es keine andere Darstellung mehr geben als unsere. Die Tollys werden nach einigem Zögern den Schutz des kleinen Thronfolgers übernehmen. Mein Bruder wird in Gronefeld regieren und ich hier — wenn Caradon das auch noch nicht weiß.« Er machte eine kleine Verbeugung, als ob er ihr einen Dienst erwiesen hätte. »Du siehst, kleine Briony, das ist das Geheimnis der Geschichtsschreibung — es kommt darauf an, wer die letzte Geschichte erzählt.«
    Den Göttern sei Dank, Chaven ist ihnen entkommen,
dachte sie.
Jedenfalls für den Moment.
Ihr Herz hämmerte so heftig, daß es ihr die Luft aus der Lunge zu treiben schien. Es war nicht viel, aber die einzige Hoffnung, an die sie sich jetzt noch klammern konnte — daß nach ihrem Tod wenigstens jemand die Wahrheit kennen würde, daß die Geschichte der Tollys nicht die einzige Darstellung dieser Tage sein würde.
    Hendon Tolly schnippte mit den Fingern. Die drei Wachen traten vor, trieben sie mit den Piken rückwärts auf Shaso zu. In diesem letzten Moment sah sie nur unbedeutende kleine Dinge vor sich — Barricks Stirnrunzeln, weil ihn irgend etwas ärgerte, Schwester Utta, wie sie sorgfältig einen Kreis auf ein Stück Pergament zeichnete, Zorias strahlendes Lächeln in einem

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