Die Grenze
Hauch des Todes anzuhaften, der Hinweis auf das Ende aller Dinge.
Ausnahmsweise einmal war ein Kind des Steins froh, ans helle Tageslicht zu kommen, aber der Stimmungsaufschwung währte nicht lange. Flint war nirgends zu sehen, und obwohl Chert über den ganzen Friedhof und selbst durch die angrenzenden Gärten ging und rief und rief, fand er ihn nicht.
Briony stand nackt vom Bad und frierend da, sah an ihrem blassen Körper hinab und haßte die Schwäche ihrer Weiblichkeit.
Wenn ich ein Mann wäre,
dachte sie,
dann würden Gronefeld und Brone und die anderen nicht auf jedem Wort von mir herumhacken. Sie würden mich nicht für schwach halten. Selbst wenn ich einen verkrüppelten Arm hätte so wie Barrick, würden sie meinen Zorn fürchten. Aber wegen des Zufalls meines Geschlechts bin ich suspekt.
Es war kalt im Raum, und sie zitterte.
Oh, Vater, wie konntest du uns verlassen?
Sie schloß die Augen, und für einen Moment war sie wieder ein Kind, das schnatternd dastand, während die Ammen es geschäftig umsorgten, seinen kleinen Körper mit Flanelltüchern trockneten und das Haus voller vertrauter Geräusche war.
Wo geht die Zeit hin, wenn sie verbraucht ist?
fragte sie sich.
Ist es wie mit dem Klang von Stimmen, der in einem langen Gang hin und her hallt, bis er schließlich so schwach ist, daß man ihn nicht mehr hören kann? Ist da irgendwo ein Echo jener Zeit, da wir alle zusammen waren — Kendrick noch am Leben, Vater hier, Barrick gesund?
Aber selbst wenn, wäre es nur ein ersterbendes Echo, bewohnt von Geistern.
Sie hob die Arme. »Kleidet mich an«, befahl sie Moina und Rose.
Der Gedanke an ihren Vater, die jähe Sehnsucht, ihn wiederzusehen oder zumindest seine Stimme zu hören, hatte sie an etwas erinnert: Wo war sein Brief, der, den Dawet dan-Faar aus Hierosol überbracht hatte? Vielleicht lag er ja bei anderen Papieren, die Kendrick hinterlassen hatte: Sie war noch nicht dazu gekommen, sie alle durchzusehen. Aber der Brief ihres Vaters war nicht wie andere Papiere: Ihn mußte sie nicht nur lesen, sie wollte es auch unbedingt. Sie würde ihn später suchen, nach der Beisetzung. Kendricks Beisetzung.
Beim Gedanken an das, was vor ihr lag, wurden ihre Knie weich, aber sie riß sich zusammen, hielt sich aufrecht. Sie würde ihren Jungfern nicht zeigen, wie ängstlich sie war, wie hilflos und verzagt.
Rose und Moina waren seltsam still. Briony fragte sich, ob sie ebenso niedergeschmettert waren wie sie, oder ob es nur Rücksicht auf ihre Stimmung und auf das schreckliche Gewicht dieses Tages war. Aber was machte das schon aus? Der Tod verschaffte sich selbst Respekt, auf die eine oder andere Weise.
Sie streiften ihr das Leibchen über, hatten ein wenig Mühe, es auf ihrer feuchten Haut zurechtzuziehen. Der Unterrock war hinten zu binden; sie war noch immer barfuß, und er staute sich um ihre Füße. Rose zog die Schnürbänder des Mieders zu fest an, und Briony stöhnte, bat aber nicht, sie zu lockern. Sie hatte gelernt, daß diese steifen Kleider einem Zweck dienten: Wie die Rüstung eines Soldaten erzeugten sie nach außen hin den Eindruck von Stärke, auch wenn der Körper darin schwach war.
Aber ich will nicht schwach sein! Ich will stark sein wie ein Mann, für die Familie und für unser Volk.
Aber was hieß das? Es gab viele Arten von Stärke, die Bärenkräfte eines Avin Brone oder die weniger offensichtliche Kraft, die Kendrick besessen hatte: Ihr älterer Bruder hatte einen der bulligeren Wachsoldaten bei einem Ringkampf so fest auf den Boden geworfen, daß man den Mann hatte wegtragen müssen. Beim Gedanken an Kendrick stockte ihr Atem.
Er war so lebendig — er kann doch nicht tot sein. Wie kann eine einzige Nacht die Welt verändern?
Aber es gab noch weitere Formen von Stärke, dachte sie, als Moina und Rose ihr in das schwarze Seidenkleid halfen, das steif von schwarzem Brokat und Gold- und Silberspitze war.
Vater hat kaum je die Stimme erhoben, und ich habe ihn nie im Zorn zuschlagen sehen, aber nur Narren hätten ihn je als schwach bezeichnet. Und warum gelten nur Männer als stark? Wer hat denn diese Familie in den letzten Tagen zusammengehalten? Nicht ich, Zoria, vergib mir.
Es war auch nicht Barrick gewesen und nicht einmal der Konnetabel. Nein, Brionys Großtante Merolanna, so fest und ruhig wie der Midlanfels selbst, hatte Ordnung in ihrer aller Leben gebracht und ein wenig Sinn in die Sinnlosigkeit des Todes.
Rose und Moina umschwirrten sie so geschäftig wie Bienen eine
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