Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
und ging wieder zurück. Er blieb noch einen Augenblick an der Tür zum Treppenhaus stehen und prägte sich die Szene ein.
Jemand fragte: »War der Tote verheiratet?«
»Ja, war er«, antwortete eine Frau. »Die Ehefrau ist auf dem Weg hierher. Sie wird von einem Staatsanwalt gebracht, den wir eingeschaltet haben. Sie sagt, sie fühle sich nicht imstande, selbst zu fahren. Und sie könne sich vorstellen, wer der Täter ist. Aber es hat sie tief getroffen, sie ist Mitte sechzig. Als ich sie erreicht habe, konnte sie minutenlang nicht sprechen. Ich dachte schon, sie hätte einfach eingehängt. Ich schätze, sie wird in einer Stunde hier sein. Sie ist auch Anwältin.«
Esser hatte sich aufgemacht und das Gästehaus besucht.
Er saß Arthur Schlauf gegenüber und betonte: »Wir haben keine Zeit. Und Sie können selbstverständlich Ihren Vater besuchen. Aber erst morgen. Wir wollen Sie nicht einschränken, und die Sache mit der Steuerfahndung ist ja erledigt. Ich danke Ihnen für den Scheck. Aber jetzt müssen Sie noch einmal Rede und Antwort stehen. Es geht um diese junge Frau, diese Madeleine Wagner, die Kiri genannt werden möchte. Sie haben sie zuletzt in Tripolis gesehen.«
»Nicht schon wieder.« Atze stöhnte gelangweilt auf. »Darüber habe ich doch bereits endlos mit dem jungen Mann von euch gesprochen, und ich weiß nicht, warum ihr so auf der Kleinen rumhackt.«
»Das ist ziemlich einfach zu beantworten, mein Freund. Die Kleine ist unserer Kenntnis nach eine Massenmörderin.«
Atze sah Esser erstaunt an, sein Mund stand leicht offen. Dann bewegte er plötzlich seinen Kopf, drehte ihn nach links, dann nach rechts, als werde er gezwungen, aus einem schönen Traum zu erwachen.
»Sie wollen mich verarschen, oder?«
»Ich mache keine Scherze«, sagte Esser. »Für so etwas habe ich überhaupt keine Zeit.«
»Die Kiri«, sagte Arthur Schlauf mit einem Seufzer. »Das kann doch nicht sein. Nein, niemals.«
»Unser Problem dabei ist, dass wir nicht wissen, wer der Nächste ist«, sagte Esser.
»Wieso denn das?«, fragte Atze verwirrt. »Wieso der Nächste?« Dann fiel ihm etwas ein. »Ole Bauer? In Mogadischu? Als ich dabei war?«
Esser nickte. »Der auch.«
»Und ich? Ich weiß doch nichts. Ich will damit nichts zu tun haben, aus so was halte ich mich raus. Das ist nichts für mich. So was nicht, niemals!«
»Wir beide müssen überlegen. Sie haben gesagt, dass sie bei Ihnen im Hotel in Tripolis einfach reinschaute, weil sie wusste, dass Sie dort waren. Wir haben aber bisher die Erfahrung gemacht, dass sie nie ohne Grund irgendwo auftauchte. Sie hatte immer einen Mordauftrag, nehmen wir an.«
»Wer macht denn so etwas?«
»Ein Mann, der zurzeit in Albanien lebt. Jongen Truud, aus Amsterdam. Regelt die großen Schmuggellinien für Rauschgift. Hat sie ihn jemals erwähnt?«
»Hat sie nicht. Wieso denn auch? Ich habe von so etwas keine Ahnung. Ich mache meine Geschäfte, und sie macht ihre. Wieso sollen wir uns darüber unterhalten? Ich meine …«
»Sie machen mich langsam sauer, guter Mann. Es geht hier um Morde! Sie kommen doch rum. Sie sehen Elend, Krieg, Krisen. Sie sehen, wie ganze Länder im Chaos versinken. Und jetzt sagen Sie einfach, ich mache meine Geschäfte und Kiri ihre. Woher wollen wir denn wissen, ob Sie nicht das nächste Opfer sind, weil irgendeiner Ihr gottverdammtes Geschäft übernehmen möchte? Sie persönlich verdienen mindestens einmal im Jahr ein Vermögen, weil Sie den Übriggebliebenen das tägliche Brot verkaufen. Und das Zeug, mit dem sie ihre Wunden verbinden können. Sie machen Kasse bei denen, die zufällig überlebt haben. Wie kann denn einer so naiv sein?« Bei den letzten Worten brüllte er fast, nahm sich dann wieder zusammen und flüsterte beschämt: »Tut mir leid.« Er war erschrocken über sich selbst, er hatte nicht geahnt, wie dünnhäutig er sein konnte. Seine Hände zitterten.
Atze sagte plötzlich nüchtern: »Das ist ein Totschlagargument. Du verkaufst an die Ärmsten der Welt. Natürlich. Das stimmt.« Dann nahm er einen Atemzug Anlauf und setzte hinzu: »Ich bin aus diesem Land weggejagt worden. Haben Sie das etwa vergessen? Ich habe doch gar nicht mehr gewusst, wohin ich gehöre. Hier war ich doch ein Aussätziger. Mein Vater leidet bis heute darunter. Meine Mutter ist daran gestorben.«
»Das ist richtig«, lenkte Esser ein. »Ich entschuldige mich. Als Sie im Hotel in Tripolis plötzlich Kiri sahen, haben Sie gedacht, sie ist vorbeigekommen, weil Sie
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