Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
gekriegt.«
»Wissen Sie, wie der mit Vornamen hieß?«
»Ja, weiß ich. Jean.«
»Jean Wagner. Uns interessiert die Zeit, in der sie hier schon nicht mehr gewohnt hat, aber immer noch mal zurückkam. Angeblich war sie nie mehr bei ihrer Mutter.«
»Das stimmt doch gar nicht«, sagte er. »Einmal war sie hier und hat der Mutter zehntausend Dollar gebracht. Einfach nur so. Ich war dabei, und ich lüge nicht. Sie hat gesagt: Das ist das Geld für die liebevolle Behandlung deiner Tochter! Dann hat sie es der Mutter an den Kopf geworfen, und wir sind wieder abgehauen.«
»Aber wo war Kiri denn zu der Zeit?«, fragte Müller. »Ich meine, wo hat sie gelebt?«
»In Hannover«, antwortete er.
»Können Sie sich denn erklären, warum sie immer zurückkam? Das war doch eigentlich sinnlos, oder?«, fragte Svenja.
»Darüber habe ich oft nachgedacht. Ich glaube, die Clique hier war ihre wirkliche Familie. Man hat sich gestritten und wieder vertragen, das war wie in einer Familie, normal. Da wollte sie hin und wieder einfach vorbeikommen, um zu gucken, was hier so läuft. Sie hatte doch nie eine Familie.«
»Hat Kiri sich verändert, als sie in Hannover lebte und nur noch ab und zu vorbeikam?«
»Hat sie, ja. Sie hat nicht mehr gekifft, also gar keine Drogen mehr genommen, und sie hat auch nicht mehr getrunken. Sie war irgendwie ganz anders. Sie hat gesagt, sie braucht das alles nicht mehr.«
»Verstehe«, sagte Svenja. »Aber wir wissen nicht, wie sie in Hannover so gelebt hat.«
»Bei wem hat sie dort gewohnt? Hat sie gearbeitet?«, hakte Müller nach.
»Sie hat mir erzählt, dass sie in einem großen Anwaltsbüro arbeitet. Am Empfang. Dass sie die Anrufe für die Rechtsanwälte durchstellt, aber manchmal auch selbst Leute anrufen muss. Sie hat auch gesagt, dass sie den Chef manchmal zu Terminen begleitet. Ich habe sie gefragt, ob sie denn anständig verdient in Hannover. Sie sagte was von fünftausend pro Monat. Aber das war wahrscheinlich schon wieder gelogen. Ich habe auch gefragt, wem denn der grüne Jaguar gehörte, mit dem sie hier aufkreuzte. Sie sagte: meinem Chef. Und sie hatte immer allererste Klamotten an, teuer meine ich. Sie war eine ganz andere Person geworden.«
»Den Namen von dem Anwalt haben Sie wahrscheinlich nicht«, sagte Svenja. »Vielleicht finden …«
»Doch, doch, den Namen habe ich behalten. Weil er so komisch ist. Er heißt Doktor Thor Lewen. Ich habe mir das deshalb gemerkt, weil Thor doch der Name eines nordischen Gottes ist. Ich weiß das von irgendeinem Computerspiel.«
»Doktor Thor Lewen«, murmelte Müller. »Wissen Sie, wie lange Kiri bei ihm war?«
»Genau weiß ich das nicht, aber drei Jahre schon, denke ich.«
»Sie waren uns wirklich eine große Hilfe«, sagte Svenja lächelnd. »Vielen Dank für Ihre Informationen. Und falls noch weitere Fragen aufkommen, dürfen wir Sie anrufen?«
»Aber gern!«, sagte Probst herzlich.
Svenja und Müller gingen zu Fuß zu ihrem Hotel zurück, als ihre beiden Handys gleichzeitig klingelten.
Es war Esser. »Seid ihr fertig?«
»Ja, sind wir«, antwortete Müller.
»Setzt euch in den Wagen und nehmt Kurs auf Wittenberg, die Lutherstadt. Da ist ein Mann ermordet worden. Mit einer Gitarrensaite. Es handelt sich um Doktor Thor Lewen, Goldhändchen hat die Adresse.«
»Über den haben wir gerade gesprochen«, sagte Svenja. »Er war wahrscheinlich der Schutzheilige der Frau, die wir so dringend suchen.«
»Wie schön!«, dröhnte Essers Stimme. »Dann schließt sich jetzt der Kreis.« Und weil er plötzlich verunsichert war, fragte er hastig: »Macht ihr euch etwa über mich lustig? So etwas gibt es doch nicht.«
»Doch, doch«, widersprach Müller. »Sie ist im Land.«
Die Szene wirkte gespenstisch.
Das Schlafzimmer lag unter dem Dach. Gewaltige Vierkantbalken zogen sich in drei Metern Höhe quer durch den Raum. Sie waren hell geschliffen und schufen ein lichtes Gewirr von straffen Linien. Der Raum selbst war mit einem dicken dunkelroten Teppich ausgelegt, der von Wand zu Wand reichte. Es gab einen Lichtspot über einer bequemen Liege, in der der Bewohner wahrscheinlich oft gelesen hatte, denn auf dem Tep pich lagen mehrere Zeitungen, Bücher stapelten sich, und einige bunte Magazine waren achtlos daneben abgelegt worden.
Auf einem kleinen Tischchen neben der Liege stand ein großer Aschenbecher aus Kristallglas. Darin lag eine große, dicke, halb gerauchte Zigarre. Irgendjemand sagte: »Der Geruch erinnert mich an meinen Vater,
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