Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
Haftanstalt anderthalb Stunden warten, ehe ein Wärter mit schlurfendem Gang den Untersuchungshäftling Atze brachte, der dann noch einmal eine halbe Stunde brauchte, um alles, was man ihm abgenommen hatte, wieder einsammeln zu können. Es waren insgesamt zwei große Rollkoffer und zwei Pilotenkoffer, alle vollgepackt.
»Sie Unglücksrabe!«, sagte Müller.
»Eine Million? Höre ich richtig: eine Million?«, zischte Atze wütend. »Für diesen Staat?«
»Wir hätten den Kleinkredit gern umgehend zurück«, stellte Müller fest. »Und jetzt kommen Sie endlich, verdammt noch mal, wir haben keine Zeit.«
Goldhändchen saß in seinem Kommandostand und dachte darüber nach, was er in dieser Nacht essen sollte, um bei Kräften zu bleiben. Seine Stimmung war gedrückt, er konnte sich nicht daran erinnern, ob er sich jemals im Leben so schlecht gefühlt hatte. Er rief seine Mutter an, was unglaublich selten vorkam.
Er sagte: »Ich habe das Gefühl, ich müsste mal wieder deinen Sahnehering mit heißen Zwiebeln und Bratkartoffeln essen.«
»Dann mache ich dir das«, antwortete sie fröhlich, setzte aber gleich hinzu: »Aber nicht, dass ich dir das alles frisch anrichte, und du kommst mal wieder nicht.« Sie hatte einschlägige Erfahrungen mit ihm gemacht.
»Ich rufe dich vorher an«, versprach er, wusste aber gleichzeitig, dass er in den nächsten achtundvierzig Stunden nicht nach Hause kommen würde. Er dachte mit Schauder und Widerwillen an die Dusche, die er hier im Haus benutzen konnte. Und an die karge Liege gleich daneben, auf der man sich fühlte wie ein Pennäler im Landschulheim.
Dann tauchte vor ihm im Blattgewirr seines privaten exotischen Regenwaldes das fröhliche Gesicht seines folgsamen Jüngers Ödil auf, der leise, aber überzeugend verkündete: »Chef, ich hätte da vielleicht etwas.«
Ödil war zweiundzwanzig Jahre alt, und Goldhändchen hatte ihn vor Monaten drei Tage lang durch alle Tests gejagt, sodass dem Jungen kaum noch Luft zum Atmen blieb. Aber er hatte sich wacker geschlagen und beachtliches Talent gezeigt.
»Dann leg mal los!«, sagte Goldhändchen nicht sonderlich interessiert.
Ödil kam näher und erklärte: »Wenn man aus Österreich kommend die E 56 nach Deutschland wählt, die identisch ist mit der A8, dann kommt man an Taiskirchen im Innkreis und Zell an der Pram vorbei. Immer vorausgesetzt, man fährt kurz runter, sucht einen Parkplatz und so. Das ist der direkte Weg, um anschließend in Höhe Passau über die Grenze zu gehen. Es geht um die Strecke Villach – Klagenfurt – Leoben – Linz – Wels – Schärding – Passau und so weiter. Das wäre sehr gut geeignet.«
»Ja«, sagte Goldhändchen geduldig. »Und was willst du mir damit sagen?«
»Wir haben da eine Zugmaschine mit Auflieger, also einen Lkw, der war leider leer, also keine Ladung mehr drauf. Kein Fahrer weit und breit. Das war heute Morgen gegen sechs Uhr.«
»Und? Besteht vielleicht irgendein Zusammenhang mit dem Doppelmord bei Rimini? Gibt es irgendwelche Übereinstimmungen? Gibt es Spuren oder auch da keine?«
»Das weiß ich nicht, Chef.«
Goldhändchen begriff Ödils Problem. »Wenn wir einen solchen Fall vorliegen haben und gleichzeitig nach einem zweiten ähnlichen Fall suchen, dann klinken wir uns ein. Du rufst also bei den österreichischen Bullen an und erzählst ihnen von der italienischen Variante. Es kann nämlich gut sein, dass sie den Fall bei Rimini nicht kennen. Biete ihnen alle Unterlagen über Rimini an. Und bitte um Fotos und genaue Details. Hat der Lkw Nummernschilder? Und wenn ja, wo kommt er her? Hol dir zwei, drei Leute zu Hilfe, ich will den ganzen Hintergrund. Du hast eine Stunde Zeit, mehr nicht.«
Er schaltete sich auf eine stehende Leitung zu Esser und sagte: »Wir haben noch einen leeren Lkw, diesmal kurz vor der österreichisch-deutschen Grenze bei Passau. Keine klare Spurenlage bisher, aber wir bleiben dran. Ich denke, wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen.«
»Und welche?«, fragte Esser zurück.
»Ganz einfach. Wir müssen feststellen, ob jemand eintausend Kilogramm C4 nach Deutschland gebracht hat oder nicht.«
»Das ist richtig. Bist du dafür, den Fall aufzunehmen?«
»Ich bin dafür, würde aber erst mal eine gründliche Recherche zur Mutter dieser rätselhaften Frau in Braunschweig abwarten. Bisher laufen wir immer noch mit Vermutungen herum, wir haben keine Fakten. Wer könnte das machen?«
»Ich bin für Svenja«, sagte Esser. »Die ist im Augenblick
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