Die Grenzgängerin: Roman (German Edition)
Darunter einen leichten Pullover mit V-Ausschnitt über einem weißen T-Shirt, klassische englische Knickerbocker und elegante braune Herrenschuhe. Sie war ununterbrochen in Bewegung, rutschte mit einem überlangen Objektiv mal nach rechts, dann nach links, verschwand kurz in der Meute, hockte auf dem Boden, nahm die Objekte ihrer Begierde von unten auf, kam dann wieder hoch, war ständig in Bewegung, wechselte mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit die Objektive und machte zuweilen den Eindruck, als würde sie tanzen.
Ihr Gesicht war leicht herzförmig, wirkte wie gemeißelt mit sehr scharfen Konturen und zeigte eine ungeheure, nahezu erschreckende Energie. Ihre Fingernägel waren erstaunlich lang und braun lackiert.
Einer der Männer vor den Mikrofonen sagte: »Wir danken Ihnen, meine Damen und Herren«, neigte ein wenig den Kopf und verschwand mit dem zweiten Mann in einem endlosen Flur.
»Hallo«, sagte Svenja. »Mein Name ist Shannon Ota von den Vereinten Nationen. Ich möchte Sie dringend sprechen.« Sie hielt ihr eine Visitenkarte hin.
Dora Fuß nahm die Karte und bemerkte: »Das ist ja schön, Schätzchen, aber bitte nicht jetzt. Mein nächster Termin ist in zwanzig Minuten.«
»Das weiß ich«, sagte Svenja, während sie dauernd angerempelt wurde. »Ich war bei Tante Lisa. Und es wäre verdammt gut, wenn Sie mal einen Gang runterschalten würden. Das hier ist wirklich wichtig.«
»Komm doch gegen Abend in den Laden«, sagte Dora Fuß abweisend.
»Sie sollten den nächsten Termin besser nicht wahrnehmen, Mädchen.« Svenjas Stimme war eiskalt.
Erst jetzt sah Dora Fuß sie an und fragte irritiert: »Was soll das hier werden? Wenn ich sage, ich habe einen Termin, dann habe ich einen Termin. Vereinte Nationen? Willst du mich verarschen?«
»Jetzt halt mal die Luft an und komm mit.«
»Wie bitte?«
»Du sollst mitkommen«, sagte Svenja hart. »Sonst breche ich dir den Arm.«
Dora Fuß war so verblüfft, dass sie nicht reagierte, sondern Svenja nur anstarrte. Und sie schien plötzlich fassungslos zu begreifen, dass diese Frau ihre Drohung wahr machen würde.
»Das gibt es doch gar nicht«, flüsterte sie.
»O doch«, murmelte Svenja. »Wo steht dein Auto? Wir fahren zu dir nach Hause.«
Es war einfach gewesen, Dora Fuß aufzutreiben. Sie hatte in der Kastanienallee ein Fotoatelier, in dem sie allerdings niemals anzutreffen war. Es lag im Hinterhof der Nummer 47 und war nach außen leicht zu erkennen: ein großes Fenster im Erdgeschoss, in dem ein paar angestaubte, sehr große vergilbte Porträts hingen, wahrscheinlich mindestens zwanzig Jahre alt. Das Fenster war seit Jahren nicht mehr geputzt worden. Es starrte vor Dreck.
Svenja hatte frühmorgens gegen neun Uhr geklingelt, und eine sehr mürrische Alte hatte ihr geöffnet und mitgeteilt: »Wir haben heute geschlossen.«
Sie war, wie Svenja dann erfuhr, die Tante von Dora Fuß, und sie hatte gejammert, dass der Betrieb im Atelier ihr noch einmal das alte Herz brechen werde.
Erst als Svenja sich nicht abweisen ließ, hatte das schlampig gekleidete Tantchen ihr einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem notiert war: 10 Uhr Willy-Brandt-Haus, 11.15 Uhr Kanzleramt, 12 Uhr CSU -Landesgruppe, 12.20 FDP – Das neue Programm.
Dora Fuß hatte beschlossen, kein Wort mehr zu sagen. Sie hockte verkrampft hinter dem Steuer eines luxuriösen Peugeot und wirkte verblüfft. Nur einmal, als eine Ampel auf Rot stand, wagte sie, ihre Frage zu wiederholen: »Was soll das: Vereinte Nationen?« Svenja hatte nicht geantwortet.
Dora Fuß fuhr sehr schnell. Sie schoss in den Hinterhof, stoppte kurz, wendete dann und sagte: »Hier können wir reden.«
»Hier nicht«, bestimmte Svenja. »Wir reden da drin.«
Sie gingen hinein. Die Wohnung hinter den verstaubten Fenstern war groß und dunkel und endete in einer Küche, die erstaunlicherweise freundlich und aufgeräumt wirkte. Sie setzten sich an einen großen Tisch.
Svenja zog einen zusammengefalteten Ausdruck der Fotografie aus ihrer Weste und sagte: »Wer hat Sie beauftragt, dieses Foto zu machen?«
Dora Fuß sah nur eine Sekunde auf den Ausdruck und sagte dann: »Das ist eine künstlerische Aufnahme für eine Feuilletonausgabe der Süddeutschen .«
»Aha«, sagte Svenja. »Kann ich den USB -Stick haben?«
»Das geht nicht, der ist nicht mehr hier. Meine Agentur hat den.«
»Welche Agentur?«
»Weiß ich im Moment nicht. Das habe ich irgendwo notiert.«
»Könnten Sie freundlicherweise aufhören, mir
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