Die große Verschwendung
Weinen verlangten, um mit ihnen zusammen zu feiern.
Fünfundzwanzig Jahre! Das war wahrscheinlich ein längerer Zeitraum als derjenige, den er noch zu leben hatte. Glabrecht erstarrte abrupt. Ein paar Sekunden lang stand er bewegungslos vor dem entkorkten Wein und konnte seinen Blick nicht mehr scharf stellen. Alles verschwamm ineinander, die Flaschen bekamen etwas Menschenähnliches. Eine soldatische, diszipliniert aufrecht stehende Truppe hatte sich bedrohlich vor ihm postiert, ehe sie sich, zum Glück, wieder in portugiesischen Rotwein verwandelte.
Die alten Flaschen, jene also, für die sich keine Situation groß genug gezeigt hatte, waren häufig längst hinüber. Gelegentlich öffnete Glabrecht eine dieser Mumien aus den großen Bordeaux-Weinschlössern. Das waren stets Gänge nach Canossa, Augenblicke, in denen er, ob er wollte oder nicht, auch eine gewisse Existenzbilanz ziehen musste, die nicht anders als niederschmetternd ausfallen konnte. Er war dann recht froh darüber, wenn der Wein eindeutig nach Gummi oder Salami schmeckte, wenn er ihn also wegschütten und eine freie Position im Weinkeller schaffen konnte, die alsbald mit einer neuen Flasche zu füllen war.
Mehr als drei, vier Flaschen schaffte er nicht in einer Durchschnittswoche ohne Gäste. Das reichte, um praktisch durchgängig verkatert zu sein. Wenn Gäste kamen, gingen allerdings manchmal zehn, zwölf Flaschen und mehr an einem einzigen Abend weg. Und das war meist das Beste an diesen Besuchen. Alles in allem verschwanden zwei-, dreihundert Stück im Jahr, aber Glabrecht kaufte regelmäßig viel mehr neue dazu, stellvertretend für die ganzen Räusche, die er nicht haben durfte und auch nicht vertragen hätte, für die Exzesse, die auch in diesen Räuschen nicht zustande gekommen wären.
Inzwischen gab es mehrere Wartepositionen für Weine. Die gerade vergangene Woche frisch gekauften Roten aus verschiedenen kanadischen Anbaugebieten – man schrieb Wunderdinge über sie – lagen noch in der Garage. Wenn im Weinkeller Platz frei wurde, dem Endlager, in dem die Weine zu ihrer ganzen Größe heranreiften oder auch kaputt gingen, rückten zunächst Flaschen vom großen Dielenschrank nach, dem zweiten der beiden mittleren Lager. Sehr zu Glabrechts Augenfreude und zu Mariannes Verdruss waren sie dort oben in ihren Holz- und Pappkisten gestapelt. Sie wurden sofort von den Flaschen ersetzt, die in der Speisenkammer auf dem Boden standen, dem ersten der mittleren Lager. Dorthin rückten wiederum die Garagenflaschen nach, und in der Garage entstand Raum für neue Flaschen. So hatte Glabrecht die Flüssigkeit, in der seine Lebenshoffnung enthalten oder versenkt war, kanalisiert.
Mit der Weinflasche, die er von der Küchenanrichte mitgebracht hatte, und einem scheinheilig kleinen Glas setzte er sich wieder raus in den Garten, das Gesicht von der Terrassentür und den gelegentlich drinnen herumredenden Frauen abgewandt. Zu seinem Glück verstand er nicht, was sie sagten. Gerede, das Glabrecht nicht verstand, beruhigte ihn. Er genoss den Luxus, all diese nachweislich gerade ins Leben tretenden Wörter nicht verstehen zu müssen. Wenn er einen häuslichen Nachmittagsschlaf halten wollte, ließ er manchmal den Fernseher mit sehr leise gestelltem Ton laufen. Er musste exakt so laut sein, dass die Wörter ineinander verschwammen, das war wichtig. Nicht ein einziges Wort durfte zu verstehen sein. Es reichten harmlose Vokabeln wie »Fraktionsvorsitzender« oder »Erdbeben«, »Menschen« oder »Sexualität«, die es schafften, durch das Gebrabbel hindurchzustechen und zu seinen Ohren zu gelangen, und schon war Glabrechts Konzentration auf sich selbst und sein absolutes Nicht-Denken gestört. Solange er sie nicht verstand, meinten es alle Redenden gut mit ihm, alle Nachrichten und Kommentare waren heimelig. Das wirkte wie Brandung oder ein Gebirgsbach, fallender Sommerregen oder das Zirpen der Grillen.
Das Zirpen der Grillen im Spätsommer! Das liebte er besonders. Vielmehr, er hätte es gerade ganz besonders geliebt, wenn es zu hören gewesen wäre. Aber es war aus seinem Leben verschwunden. Merkwürdig eigentlich, grenzte das Haus doch direkt an ein Naturschutzgebiet. Überdies gab es so vieles, was ihm fehlte. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte!
In dieser Situation hatte Glabrecht den vom Etikett her bescheiden aussehenden, aber königlich schmeckenden Rotwein aus dem Alentejo auf seinem Tisch sowie die deutsche Neuübersetzung von Prousts
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