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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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ihr Dekolletee schaute, dass eine Kinnfalte entstand und ihre Mundwinkel sich mit nach unten zogen – die entstandene Verwirrung des Blusenkragens, öffnete einen weiteren Knopf und ordnete, jetzt wieder mit aufrechtem Kopf und ohne hinzusehen, die Kragenspitzen in einer Weise neu, dass die Bluse sich weit öffnete und der obere Teil des BHs sowie die Wölbungen ihrer Brüste sichtbar wurden. Glabrecht muss derart entgeistert auf diese Dinge gestarrt haben, dass Marianne erneut das Kinn und die Mundwinkel nach unten warf, um nachzuschauen, was da los war. Eine Sekunde später blickten die beiden sich an und lachten. Noch Jahre später schwor Marianne, dass sei alles ohne Absicht, ja völlig ohne Nachdenken geschehen. Dennoch war die gesamte knappe Stunde, die man noch im Café saß, geprägt von der Installation des running gags mit dem Titel: »Völlig unbeabsichtigtes Vorzeigen eines gut gefüllten BHs«. Drei-, viermal kamen die beiden mimisch auf die Situation zurück – die Bluse war längst wieder geschlossen –, und sie hatten mit diesem Gag etwas Gemeinsames, das sich wohl weigerte, mir nichts, dir nichts an ein Ende zu kommen.
    Als sie das Café schließlich verließen, passierte erneut etwas, das bleiben wollte. Marianne war mit dem Fahrrad gekommen, das sie jetzt von einer Laterne losschloss. Es war Zeit, sich zu verabschieden. Mit der Rechten hielt sie das Rad am Lenkervorbau fest, sie selbst stand zwischen Glabrecht und dem Rad und sagte: »Willst du den Artikel vorher sehen?« Sie meinte den Artikel für die taz , an dem sie arbeitete.
    Sie waren also bereits beim »Du«. Ehe Glabrecht antworten konnte, geschah das Folgende: Das Fahrrad hinter ihr bewegte sich plötzlich in Richtung Straße, wodurch Marianne aus dem Gleichgewicht geriet und die Vorwärtsbewegung des Rads noch beschleunigte, indem sie versuchte, sich auf den Lenker zu stützen. Das Auto, das gerade aus der Bockenheimer Landstraße in die Seitenstraße abbog, an der die beiden standen, berührte das Vorderrad mit der Stoßstange. Der Fahrer bekam davon nichts mit, aber das Fahrrad fiel zu Boden, Marianne nur deswegen nicht, weil Glabrecht sie festhielt. Er begleitete sie dann über den Main nach Hause. Schon am folgenden Tag telefonierten sie miteinander, zwei Tage später sahen sie sich wieder, begannen damit, immer größere Teile ihres Alltags aufeinander zu beziehen. Glabrecht entdeckte gesellige und unternehmungslustige Wesenszüge an sich. Sie besuchten den Zoo, fuhren in den Taunus und in den Rheingau und kehrten dort in Straußwirtschaften ein, die er aus seiner Kindheit und Jugend kannte. Es waren die letzten Monate in seinem Leben, in denen Glabrecht fast immer gut schlief, auf engstem Raum, ausgestattet mit einer generellen Penetrationserlaubnis, die Marianne ihm erteilt hatte, auch für den Fall, dass sie schlief und erst dadurch geweckt wurde, dass er in sie hinein fuhr.
    Vier Jahre später, inzwischen hatte Glabrecht bereits die Stelle bei der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit , war Marianne schwanger. Sie hatten das nicht geplant, andererseits auch nicht konsequent verhütet. Sie verlor das Kind im vierten Monat.
    Jahre danach fragte sich Glabrecht, ob er damals ernsthaft genug nachgeforscht hatte, was dieses Ereignis in Marianne auslöste. Hatte er ihr die rasch wiedererlangte Gelassenheit nicht viel zu gern abgekauft? In ihm selbst hatte es keinen merklichen Kinderwunsch gegeben. So etwas war erst später im Leben entstanden. Er hatte davon geschwiegen.

Zweites Kapitel
    1.
    Fast drei Wochen waren nun seit Oslo vergangen. Der September hatte begonnen. Schon wieder hatte ein September begonnen, und gern zitierte Glabrecht aus seiner Gefühlserinnerung die leise Abschiedlichkeit, die dieser Monat in ihm hervorrufen konnte und die ihn hoffen ließ, dass er dem Leben schon bald gelassener entgegentreten könnte. Allerdings hatte Marianne für den heutigen Samstag einen »geselligen Abend« organisiert, und das störte Glabrecht erheblich bei seinem Versuch, sich zu beruhigen.
    Bloß hören musste er diese beiden Wörter, und schon stieg zusammen mit der Furcht vor der Langeweile, die ihn erwartete, auch die Müdigkeit in ihm hoch. Gesellige Abende waren für ihn annähernd so schlimm wie die Theaterpremieren, die er sich aus Gründen der Imagepflege zwei-, dreimal im Jahr antun musste. Außerdem hatte er noch einen Kater vom Vorabend in den Knochen, und die Diskussion um die Maritime Erlebniswelt, durch die

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