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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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»Un amour de Swann« auf seinem Schoß. Das Buch hieß jetzt »Eine Liebe Swanns«, und über dieses »Swanns« ärgerte sich Glabrecht, es klang fast wie »Schwanz«, »eine Liebe Schwanz«. Seit Wochen war er nicht über die ersten zehn Seiten hinausgekommen, und er hatte auch jetzt nicht vor zu lesen. Welche Freude hatte er bloß an diesen unnatürlichen, gestelzten, verklemmten Sätzen gefunden, als er ungefähr sechzehn gewesen war, als das Buch noch »Eine Liebe von Swann« hieß und als er wochenlang begeistert mit dem Text im Kopf herumgelaufen war? Vielleicht war er ja inzwischen einfach nur viel zu versoffen oder zu verzweifelt oder beides? Wie auch immer, er konnte sich offenbar nicht mehr mit diesen Dingen beschäftigen, diesen albernen gesellschaftlichen Auftritten in Paris.
    Dies alles interessierte ihn nicht, hatte es doch nichts mit der Jetztzeit, mit seinem ausgebremsten und dennoch oder gerade deswegen umso rascher verschwindenden Leben zu tun, viel weniger jedenfalls als der Himmel, in den er gerade starrte, während er kleine Schlucke des Weines nahm.
    Plötzlich hatte Glabrecht sich tatsächlich etwas ausgebreitet in der Welt. Seine Gedanken, die offenbar immer mehr zu bloßen Denkabsichten oder zu Gefühlen wurden, waren jetzt dort oben in den Wolken. Er hatte wohl nicht allzu großen gebieterischen Einfluss auf sein eigenes Gehirn, befand sich vielmehr, angenehm sämig geworden von der Zuwendung, die ihm der Alkohol spendete, in wachsender Entfernung vom eigenen Bewusstsein und sowieso von allem. Trotz der herandrohenden Abendgesellschaft fühlte er sich wohl. Sekundenlang freute er sich über die schiere Existenz, die ihn – ja verdammt, wie sollte er das sagen? – unterwürfig umgab und ihn beinhaltete, ohne seine Isolation im Geringsten zu gefährden. Ja, genau so war es! Glabrecht spürte das immer deutlicher, mit jedem Schluck. Die Existenz beinhaltete ihn! – Gerührt von der erhabenen Eleganz dieses Satzes, auch von der Empfindsamkeit desjenigen, der ihn gerade gedacht hatte, bekam Glabrecht feuchte Augen.
    Wie schön war es doch, allein zu sein! Irgendwie war es immer so gewesen, dass er sich von den anderen abgesondert hatte, so gut es ging, und dass er sich, nach erfolgreicher Absonderung, gleichzeitig gerettet und gescheitert fühlte. Zum Beispiel damals auf dem Dachboden, wenn er die Leiter hoch gezogen, die Luke geschlossen hatte und wartete, bis die Mutter ihn vermisste und besorgt nach ihm rief. »Georg, Georg, wo steckst du denn?«
    Er hatte die Luft angehalten und in diesem Augenblick gewusst, dass es sie hart ankommen würde, wenn sie hinter dem Sarg ihres toten Sohnes würde hergehen müssen. Das hatte ihn ein wenig mit allem versöhnt, ehe er sich seiner Lage im Staub und Dreck des Dachbodens bewusst wurde.
    Immer noch lag der Proust auf seinem Schoß. Glabrecht lachte, wie praktisch, solch ein Buch! Man musste es nur aufgeschlagen hinlegen, und schon war jedes verblödete Herumsitzen gerechtfertigt. Der Trick mit den gefrorenen toten Großgeistern funktionierte immer noch! Noch immer ließen sich seine Politikerkollegen vor Bücherwänden interviewen, nicht etwa neben einem Festplattenspeicher oder einem winzigen Speicherkärtchen, auf dem unter Umständen zehntausend philosophische Bücher komplett abgespeichert sein könnten – allerdings auch tausend Pornovideos. Das war vielleicht das Problem!
    Heute würden Fred und Annie kommen sowie ihre Tochter Elisabeth. Außerdem Kollege Dr. Knud von Zirler, SPD, Senatsdirektor in der Behörde für Umwelt und Natur, Urbremer, was man schon am Vornamen hörte, und seine Frau Gerhild von Zirler. Sie war millionenschwere Erbin eines schwäbischen Maschinenbauunternehmens, späte Tochter eines hohen Nazis, aber dafür konnte sie ja nichts. Ihrem Knud hatte sie den Namen sowie den niederen Adelstitel gespendet. Mit diesem neuen Namen durfte der liebe Knud, der früher Knud Berghoff hieß, zusammen mit seiner Gerhild beim Bremer Großbürgertum und der assoziierten Parvenü-Schickeria mitmachen. Hätte das alles nur von seinem Senatseinkommen bezahlt werden müssen, – das wäre eher knapp gewesen, Besoldungsgruppe B3, das reichte »mal gerade eben so hin«, wie der Bremer als solcher gesagt hätte. Aber Gerhild, die hatte es ja lang und schlapp!
    Sobald sich Glabrecht diese beiden Figuren vorstellte, dachte er die Wörter »begeisterte Golfer«. Beide waren nämlich Golfspieler, und beide hatten, unabhängig voneinander, in

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