Die große Verschwendung
eingeladen. Man feierte ihn ein wenig – und dies war dann auch der Grund, weshalb er sich zu einer Parteimitgliedschaft entschloss. Er war wohl auf der Suche nach etwas Geborgenheit gewesen, ausgestattet lediglich mit seinen bescheidenen Lehraufträgen an der Uni Frankfurt und der gelegentlichen freien Arbeit für die Frankfurter Rundschau .
Zwei Jahre zuvor hatte ihn Theresa, die Geliebte seiner jungen Jahre, verlassen. In großem Stil war die Angst zum Ausbruch gelangt, als er an jenem unvergessenen Morgen nach dem Trennungsgespräch erwacht war und sich in einer silbergrauen Panik wiedergefunden hatte, die über ein halbes Jahr lang nicht mehr von ihm gewichen war. Damals hatte er es trotz allem geschafft, seinen wöchentlichen Lehrauftrag an der Universität Frankfurt abzuleisten, mit einer Selbstanmutung, als besäße er keinen Körper, als wäre nur seine Stimme anwesend.
Selbst heute, zwanzig Jahre später, musste Glabrecht nur an diesen Zustand denken, und sofort kamen sie sich nahe, er selbst und die Panik. Etwas stieg dann wie eine schwere schwarze Flüssigkeit vom Bauch über seine Kehle und Zunge in seine Gedanken hoch und legte sie lahm.
Eines frühen Abends damals in Frankfurt rief ihn eine junge Journalistin an, es war Marianne, die für die taz einen Artikel über die Folgen der innereuropäischen Lebensmittelsubventionen für Afrika schrieb und ihn zu diesem Thema interviewen wollte. Ihm gefielen ihre Stimme und die Melodie ihrer Sätze – absinkender Ton zum Satzende hin – er konnte sie außerdem mehrfach zum Lachen bringen. Für den nächsten Nachmittag war ein Treffen vereinbart. Nach dem Telefonat fiel Glabrecht der bejammernswerte Zustand seiner Wohnung auf, die in einem engen, stickigen und lauten Dachgeschoss im Frankfurter Nordend lag: ein Zimmer mit schäbigem braunen Teppichboden, kleine Küche, dunkles Bad mit Schimmelgeruch. Glabrecht räumte auf und putzte derart gründlich, wie er es in den zurückliegenden Jahren nicht geschafft hatte.
Sie trafen sich in einem Café an der Bockenheimer Landstraße. Marianne kam etwas später als Glabrecht, trug ein Kostüm und eine streng gebügelte Bluse.
»Sie sehen eher aus, als arbeiteten Sie für die FAZ als für die taz «, sagte er.
»Ich wusste ja nicht, wen ich interviewen würde«, sagte sie.
Ihr Gesicht war unspektakulär, flächig, mit kleiner Nase und einigen Spuren von überstandener Akne, aber sehr schnell fand Glabrecht es anziehend, vielleicht durch die Art, wie sich die ganze Person auf ihrem Stuhl hin und her bewegte, höchst wahrscheinlich auch deswegen, weil sie einen schlanken Körper mit offenbar beachtlichen Brüsten hatte. Der oberste Knopf der weißen Bluse war geöffnet, die Kragenspitzen lagen brav über den Revers des Sakkos.
Sie saßen über Eck an einem kleinen Tisch. Marianne notierte seine Antworten auf ihre Fragen auf einem winzigen Notizblock mit Spiralbindung. Hierfür beugte sie sich nach vorn, und Glabrecht konnte in aller Ruhe ihren Scheitel, ihren Kopf und ihre Schultern betrachten. In den Momenten, wenn sie es wieder vom Notizblock hob, war ihr Gesicht nahe an seinem, ehe sie sich ein wenig in ihren Polsterstuhl zurückzog. Es passierten dann zwei Dinge von der Art, die man erst später als die Situationen erkennt, in denen eine im Raum stehende Anziehungskraft zwischen zwei Personen sich materialisiert. Eventuell entstanden diese Situationen sogar nur deswegen, weil das Begehren sie erzeugt, weil es die Wirklichkeit gebogen hatte – so lange, bis etwas geschah, das die Dinge ins Rollen brachte.
Das erste der beiden Ereignisse, über das Marianne und Glabrecht sich während der erfreulichen Anfangszeit ihrer Paarexistenz immer wieder amüsierten, hätten sie vielleicht gar nicht registriert, wären sie nicht bereits beide aneinander interessiert gewesen. Nachdem Marianne ihr Notizblöckchen zugeklappt hatte, schlug Glabrecht vor, nach den Milchkaffees – und schließlich sei es ja schon achtzehn Uhr! – Apfelwein zu bestellen. Sie begannen dann, Dinge aus ihrer beider Leben zu erzählen und Gelegenheiten zu schaffen, um ein wenig gemeinsam lachen zu können. Sie entstammte einer Lehrerfamilie aus Wiesbaden, war siebenundzwanzig Jahre alt, studierte Psychologie und Journalistik und träumte von einer Anstellung in einem der populärpsychologischen Journale. Irgendwann zog sie ihren Blazer aus und hängte ihn über den Stuhl. Sie beobachtete hierauf – indem sie derart entschlossen hinunter auf
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