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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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graues Haar. Er wirkte noch sanfter und hormonschwächer als früher. Zunächst konnte Glabrecht keine Eindrücke zulassen, die von Annie stammten, denn es gab Wichtigeres: Elisabeth, die Tochter, war nämlich eingetreten, sie war wunderschön geworden in den zwei Jahren, seitdem er sie nicht mehr gesehen hatte.
    Glabrecht rechnete nach. Sie musste achtzehn sein. Aus dem Mieder – oder was war das, das sie da trug? – quetschten sich die Brüste raus. Die Schultern und Arme waren offensichtlich im Fitnessstudio trainiert. Es gab außerdem knallenge, tief sitzende Jeans, einen flachen nackten Bauch, und hinten lugte garantiert der Stringtanga aus dem Hosenbund.
    Das alles hatte Glabrecht trotz seiner tiefen Erschöpfung innerhalb einer zehntel Sekunde gesehen oder vermutet, so schnell jedenfalls, dass die stets anwesende Kontrolleurin seines Blickverhaltens, die Frauenbeauftragte seines Über-Ichs, die kurze Bewegung seiner Augäpfel hin zu den säuischen Knalleffekten der Natur nicht hatte sehen können. Stand ihm eine Frau gegenüber, die jung und hübsch war, prüfte die Kontrolleurin besonders radikal und schnell.
    Rasch blickte er der kleinen Elisabeth wieder ins Gesicht, nach wie vor war höchstens eine einzige Sekunde vergangen, seitdem er sie überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Er schaute ins Gesicht, aber im unteren, unpräzisen Bereich seines Gesichtsfelds sah er immer noch die jungen Brüste, den Bauch und die Zwickelnaht, die sich zwischen den strotzenden Schamlippen eingrub.
    »Zuerst die Damen!«, sagte er, streckte seinen Oberkörper gerade und reichte Elisabeth die Hand.
    Elisabeth schaute ihm ebenfalls ins Gesicht, interessiert, so, wie kein achtzehnjähriger Junge einer fast fünfzigjährigen Frau ins Gesicht geschaut hätte. Ein junger Mann hätte sich sowieso viel eher beispielsweise für die Sportschau oder ein neues Notebook interessiert. Elisabeth fixierte ja keineswegs, so wie Glabrecht selbst das gewöhnlich tat, eine neutrale Stelle zwischen Mund und Augen beim Gegenüber, sondern geradewegs seine Augen, so dass auch er nicht umhin kam, sie direkt anzublicken. Früher wäre er auf das Interesse dieser jungen Frau hereingefallen, und heute fiel er immer noch darauf rein, aber selbstbeherrscht, sozusagen. Frisch geschmiedete weibliche Sexualwaffen prüften ihre Macht und die möglichen Eroberungen und Unterwerfungen von männlichen Organismen. Der ältere Herr fand das wunderbar und wäre gern Hollywood-Star, Milliardär, grausamer Diktator oder Fernsehmoderator gewesen, um seine Wünsche umsetzen und ins Paradies unter dem Hosenzwickel vordringen zu können.
    Durch diese undisziplinierten Sekundengedanken war Glabrecht in einen ziemlichen Universalverdruss abgeglitten. Überdies musste er sich jetzt Annie zuwenden, die ihren erstaunlich eleganten weißen Sommerblazer, in dem sie etwas an Angela Merkel erinnerte, noch nicht abgelegt hatte. Während der Sekunden, die er mit ihrer Tochter intim gewesen war, hatte sie Marianne einen Blumenstrauß überreicht. Die beiden hatten sich überdies zwei Küsschen gegeben, wobei sie leise in die Luft schmatzten, links: »schmatz!« und rechts »schmatz!«, und erst jetzt fiel Glabrecht auf, dass er sich verdächtig gemacht hatte, indem er Elisabeth nicht auf die Wangen geküsst hatte. Seine Hemmung könnte eventuell als Hinweis darauf gelten, dass er gehirnlich die freundschaftlich-väterliche Ebene verlassen hatte! Marianne, den Blumenstrauß grotesk weit zur Seite wegstreckend, wandte sich Fred zu, verlängerte den Hals, um weitere Küsschen zu applizieren. Auch Glabrecht musste jetzt ran, bei Annie. Sie war tüchtig einparfümiert mit einem dieser neumodischen Düfte, die ein wenig an die Miasmen der grünen Steine erinnerten, die sich früher in den Urinalen befunden hatten. Einmal war auch Frau Scholz mit solch einem Parfüm aufmarschiert, und Glabrecht hatte sie freundlich gebeten, dies künftighin zu vermeiden.
    Fred schüttelte er die Hand, drückte fest zu, als er die feuchte Weiche bemerkte. »Na, Fred, wie schaut’s aus, du gehst ja immer gebeugter, mein Lieber! Wir alten Kerle sollten uns gerade halten, sonst laufen uns die Frauen weg.«
    Fred lachte, allerdings mit lediglich einem seiner beiden Mundwinkel. Wahrscheinlich befürchtete er tatsächlich, Annie könnte für immer nordisch davonwalken. Dabei hatten die beiden vor dem gleichen öden Horizont operiert, damals, als sie sich zusammentaten, hatten sehr streng auf den Gleichstand

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