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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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Investoren käme es in Wahrheit nur auf die Casino-Lizenz an und auf den Reibach mit den Wohnungen.
    Er tingelte von Bezirksversammlung zu Bezirksversammlung, sprach vom »Herzblut«, mit dem er für die MO und den anderen Kram kämpfen würde, für den »kulturellen Leuchtturm, der weit über Bremens Grenzen hinaus strahlen wird«.
    Wenn er solch eine Rede hielt in dieser künstlichen, feministisch korrekten, an das Gute glaubenden und von Marketing-Vokabeln gestützten Sprache, von der er wusste, dass sie ausschließlich in der Politik, in Behörden, Gewerkschaften und Sozialinstitutionen gesprochen wurde, musste er sich vorab konzentrieren und eine komplette Persönlichkeits- und Seelenspaltung in sich erzwingen. Der neue Mensch, der politische Glabrecht, war dann gründlich zusammengeleimt. Die Sätze entstiegen einer anderen, nunmehr zuverlässig durchgefärbten Person. Er redete von »Mitbürgerinnen und Mitbürgern«, von der »unverzichtbaren Bereicherung unserer Lebenswelt und Kultur durch Migrantinnen und Migranten« und so weiter. Während seiner Rede war er einer geworden, der deswegen an fremdgebildete, lügnerische und verfaulte Wörter glaubte, weil sie einem Zweck dienten, den er verfolgte.
    Anders hätte die ganze Sache nicht funktioniert, denn er konnte nicht auf der Höhe seiner Bewusstheit Wörter von sich geben, die er verachtete. Ja, er war ein Wortgläubiger, und deswegen hätte er niemals Politiker werden dürfen. Nur bewusst und vollkommen konnte er vom Glauben abfallen, nicht allein mit Wörtern, obwohl er doch wusste, dass sie einzig dem Zweck zu dienen hatten. Sie hielten so lange, wie der berühmteste Satz der Welt hielt, der Satz: »Ich liebe dich« – oder wie das Wort mit der kürzesten Halbwertszeit überhaupt, das Wort »Glück«!
    Langsam ausgesprochen, klang es so, als zerplatzte eine aufgestiegene Luftblase an der Wasseroberfläche. Glabrecht probierte es aus: »Gelück, Gelück, Gelück«, sagte er vor sich hin, während er den starren Blick aus seinem senatorischen Dienstzimmer an den Himmel über dem Hafen heftete.
    Glabrechts grüne Kollegen, Wissenschafts-Bohnhoff und Umwelt-Krause, waren privat der Meinung, man solle die ganze »maritime Scheiße« auf Eis legen und irgendwas faseln von »notwendigen verantwortungsbewussten Nachverhandlungen im Sinne Bremens und seiner Bürgerinnen und Bürger«, von »einem neuen Zeithorizont«, den man sich setzen wolle.
    Auf jeden Fall: alles vom Tisch, bis die Wahl vorüber wäre! Das meinte übrigens auch Marianne. Wenn das alles so weiterginge, sagte sie, stände da am Ende nur ein einziger großer Verlierer, nämlich Senator Dr. Glabrecht. Sie war sowieso die ganze Zeit über gegen das Projekt gewesen, aus Klimaschutzgründen, wie sie stets sagte. Wieder würden unendliche Mengen an Ressourcen und Energie für irgendeinen überflüssigen Quatsch verschwendet. Aber Glabrecht war es, der zu entscheiden hatte, er war Senator und Zweiter Bürgermeister.
    Bürgermeister Reinhard Alte und seine SPD waren in einer ganz ähnlichen Lage. Selbstverständlich hatte der Senat die siebzigseitige Antwort auf die große parlamentarische Anfrage der CDU in der Bürgerschaft durchgeboxt. Aber es hatte vier Enthaltungen gegeben, und viele der eigenen Leute hatten ausgesehen, als hätten sie in Zitronen gebissen. Die vorangegangene Senatssitzung hätte um ein Haar das Ende der MO und der ganzen Maritimen Erlebniswelt bedeutet. Einzig die Blamage und der verheerende politische Schaden, den beide Regierungsparteien erlitten hätten, waren am Ende entscheidend. Der Bürgermeister und Glabrecht hatten angeregt, mit der Nordic Urban Development noch einmal über die mäzenatischen Beiträge für die Maritime Oper zu reden. Irgendeine spektakuläre Meldung musste her! Glabrecht hatte gestern Abend ein Schreiben an John Crawfield gefaxt und erkennen lassen, dass der Senat, angesichts der Medienkampagne, das Projekt politisch kaum noch halten könne.
    9.
    Inzwischen war die Mitte des Oktobers vorbei, bislang ein ungewöhnlich warmer Oktober, der wärmste Oktober »seit Beginn der Wetteraufzeichnungen«, wie es hieß, eine Formel, die Glabrecht immer öfter hörte. Die Luft war stickig. War sie nicht in früheren Oktobern anders gewesen, damals im Rheingau, in Geisenheim, klar und frisch aus östlichen Richtungen wehend, unter einem tiefgründigen Himmel, mit unerbittlichen optischen Kontrasten überall, mit schreienden Kranichformationen vor türkisen und

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