Die große Verschwendung
kostbar war die Situation mit ihr, waren diese hin- und hergehenden langen E-Mail-Botschaften, die vertrauensseligen Lebensschilderungen. Sie waren ein Schutzraum, in den sein Gemüt immer wieder fliehen konnte. Zum Glück konnten die tatsächlichen körperlichen Zerfressenheiten und Aufblähungen die E-Mails nicht als »attached files« begleiten und zur Empfängerin durchdringen. Es war der niedergeschriebene Text in seiner gründlich examinierten unirdischen Reinheit, der auf die E-Mail-Reise ging, und zum Glück nichts anderes.
8.
Im Übrigen stellte sich Glabrecht immer wieder die Frage, woher er die Kraft nahm, diesen provinzpolitischen Zirkus mit zu organisieren, dessen Teil er war, mit aller Brutalität und Präzision, viel zu oft am Erschöpfungslimit, dabei ohne jede Überzeugtheit, aber von irgendwas getrieben. Da arbeitete offenbar ein Prozessor in ihm, dessen Routinen er nicht durchschaute. In den vergangenen Jahren hatte es tatsächlich Tage, ja Wochen gegeben, in denen er kaum etwas anderes wahrgenommen hatte als den politischen Betrieb, der sich selbst zu erzeugen schien.
Aber manchmal waren ganz unerwartet Ereignisse wie die folgenden geschehen: Er saß im startenden Flugzeug, und er betrachtete aus noch niedriger Höhe die Bäume unter sich. Oder er ging die wenigen Meter durch die Borgfelder Allee hin zu seinem Haus. Und plötzlich hatte sich irgendeine rebellische Wahrnehmungsminiatur in ihm behauptet, sie war gewachsen und machtvoll geworden, sie hatte nicht Platz machen wollen für all die Milliarden anderen Realitätspartikel, und sie hatte ihm gezeigt, dass ihm große Teile des Jahres und des Lebens abhanden gekommen waren. In Wahrheit war alles so furchtbar an ihm vorbeigegangen.
Einmal – und daran musste er jetzt denken, weil es Herbst war und weil er wieder nicht dazu kam, sich mit dieser Tatsache zu befassen, die doch nur noch wenige Male in seinem Leben in Erscheinung treten würde –, einmal, als Glabrecht bemerkte, wie das der Sonne zugewandte Laub einer Buche rötlich-gelblich verfärbt war, hatte ihn dieser Anblick regelrecht entsetzt. Die Buche stand im Park eines Tagungshotels in Butjadingen, dort, wo der Senat zweimal pro Jahr seine sogenannten Strategiesitzungen abhielt, Orgien der Selbstdarstellung und Hohlschwätzerei. Es war an einem Sonntag im vergangenen Jahr, der Herbst hatte sich angekündigt, als Glabrecht auffiel, dass er keinerlei Gedanken und Formulierungen für die neue Jahreszeit vorbereitet hatte, dass er in beschämender Weise seelisch hilflos war.
Glabrecht schaute damals aus dem Fenster hinaus, und vermutlich war es ein Gemütsflehen, was er in diesem Moment an die Buche geschickt hatte: »Halte mich fest, nagele mich fest an dir, lass mich nicht verschwinden!« So – oder so ähnlich – hatte seine Mitteilung an den Baum gelautet.
Die Sonne hatte schon recht tief gestanden. Sie schien von der Seite her in die Buche hinein und brachte die Farben zum Leuchten. Zwar war das der Sonne abgewandte Grün des Baumes noch fleckenlos, aber dennoch bereits eindeutig ermüdet, so, wie Glabrecht selbst ermüdet war und immer müder wurde. Er schaute tiefer in die Krone, dorthin, wo die Blätter dunkel, fast schwarz aussahen, und dann wanderte sein Blick hinauf an die Grenzlinie zwischen dem Baumgrün und dem dunstigen, sanften Blau des Himmels, das, ganz wie eine einfache schöne Melodie, seine Tiefen für sich behielt. Von dort, von dieser Grenze her, floss plötzlich sekundenlang eine sanfte und gnadenreiche Ruhe zu Glabrecht hin und in ihn hinein und brachte alle seine Gedanken zum Schweigen, so, als sei nun alles gesagt und dennoch alles verziehen.
Rasch, weil ihm ein Schwall Tränen in die Augen geschossen war, hatte er sich über sein »Strategiepapier« beugen und anschließend den Sitzungsraum verlassen müssen. Eine »Allergie« habe ihn ereilt, erklärte er später den besorgten Senatskollegen.
In diesem Herbst fiel die Strategiesitzung in Butjadingen aus. Hierfür war, angesichts der politischen Lage, keine Zeit. Glabrecht musste mit aller Kraft so tun, als sei er davon überzeugt, dass Bremen die Maritime Oper , die Sea-World , das ganze Entertainment-Cluster brauche. Ja, mehr noch, er musste geradezu leidenschaftlich um das Projekt kämpfen, das inzwischen von einem Großteil des eigenen Parteivolks abgelehnt wurde. Längst war ihm auch die taz in den Rücken gefallen. Sie hatten ihn »den profilierungsgeilen Disney-Glabrecht« genannt! Den
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