Die große Verschwendung
fröstelte er. Die Uhr zeigte: Der Schlaf hatte keine zehn Minuten gedauert. Welche Hoffnungen genau waren es, die während dieser kurzen Zeit gestorben waren? Die Hoffnung auf ein Glück mit Adriana? Auf die Erlösung von seiner Gehetztheit? Darauf, dass er nicht würde sterben müssen? Aber existierte denn eine solche Hoffnung, existierte sie derartig, dass man sie haben konnte?
Jetzt sickerte die Erinnerung an einen Traum in sein Bewusstsein, den er wohl während seines Kurzschlafes gehabt hatte. Nein, es war kein Traum, sondern nur eine einzige Situation, die ihm einfiel: Er passierte an einem Flughafen die Passkontrolle, eine schöne junge Dame verglich das Foto mit seinem Gesicht, reichte den Ausweis dankend und lächelnd zurück, und als er ihn entgegennahm, sah er, dass auf dem Foto nicht er selbst, sondern sein Vater zu sehen war. Nicht, dass es dessen Gesicht gewesen wäre, es war vielmehr ein unbekanntes Gesicht, das sich auf irgendeine rätselhafte und unbestimmbare Weise bemühte, so auszusehen wie Glabrechts Vater. Aber dennoch bestand kein Zweifel: Das Foto zeigte seinen Vater! Glabrecht fing an zu schreien, und das war es wohl, was ihn geweckt hatte.
Wieso träumte er so etwas? Heute, gestern, seit Langem hatte es keinen einzigen Gedanken an diese Reise mit seinem kranken Vater gegeben, als der vor fünf Jahren zum ersten Mal überhaupt in ein Flugzeug gestiegen war, als er die Leute aufgehalten hatte am Gate, weil man die Ausweise vorzeigen musste und er von dieser Prozedur völlig überfordert gewesen war.
Glabrecht hatte seinen Vater erst nach dem Tod der Mutter wieder einigermaßen regelmäßig gesehen und in seiner Einsamkeit in Köln besucht. Als Kind hatte er die wuterfüllten Schilderungen der Mutter gehört, die dem kleinen Georg von der Triebhaftigkeit ihres Mannes berichtet hatte, die sie abstoßend, ekelerregend fand.
Der Vater schien, und damit benahm er sich übrigens, wie die Mutter sagte, genauso wie alle übrigen Männer, ständig Flüssigkeiten umherzuspritzen und daran einen besonderen Gefallen zu finden. Besonders widerlich seien außerdem des Vaters Vorlieben für das »Orale«, das ihr ewig abverlangt werde. Das musste das Schlimmste sein, daran gab es keinen Zweifel. Als der Vater dann ganz plötzlich wegzog, Georg war gerade zehn Jahre alt geworden, machte dieser für den neuen Schrecken vor allem das Orale verantwortlich. Die Sätze der Mutter behielt er auch die folgenden Jahre über im Kopf und ordnete ihnen sehr viel später ihre Bedeutung zu: Offenbar hatte der Vater die Mutter ständig zur Fellatio gezwungen.
Erst als ihm zum ersten Mal eine Frau sagte, sie ertrage seinen Kopf zwischen ihren Beinen nicht mehr – es war Theresa, kurz bevor sie ihn verließ –, kam er auf die Idee, dass seine Mutter eventuell genau diesen Vorgang gemeint haben könnte, wenn sie vom Oralen sprach.
Mein Gott, Theresa! Hätte Glabrecht den Namen laut ausgesprochen, wäre es seufzend geschehen, obwohl er doch wusste, dass diesem »Theresa« im Augenblick eine Energie aus einem Gefühl zufloss, das sich hinter einem anderen Namen versammelt und bewaffnet hatte, nämlich hinter dem Namen Adriana. Auch dieser Name war im umfangreichen leidenden Terrain des Glabrechtschen Bewusstseins stationiert.
Nachdem Theresa ihn damals verlassen hatte, sprach er ihren Namen monatelang vor sich hin, jedes Mal das zweite »e« in einer Weise ausstöhnend, als wäre es der letzte Atemzug eines Sterbenden. Es war dies wohl der eigentliche Klang der verfluchten Liebesleidenschaft.
Ja, Theresa hatte in ein paar Tagen Geburtstag, am 27. Oktober. Glabrecht wusste nichts mehr von ihrem Leben, seit etwa sechs Jahren wusste er nichts mehr davon. Damals hatte sie ihm eine Postkarte geschrieben. Sie gehe für einige Jahre in die Schweiz, weil ihr Mann dort einen neuen Job gefunden habe. Zuletzt gesehen hatte man einander vor über zehn Jahren, als Glabrecht sie, ihren Mann und ihre beiden Kinder in schöner fränkischer Ländlichkeit besuchte. Er sah damals, wie es war, wenn sich ein Lebensweg gefestigt hatte, wenn entschieden war, was es in einem Dasein zu entscheiden gab. Alles war beieinander bei ihr, sie, mit ihren Eigenschaften, die er zweifellos geliebt hatte, das Haus, der Garten, die Töchter mit den Zügen der Mutter in den Gesichtern, der freundliche Ehemann, ein völlig anderer Typ als Glabrecht, schweigsam und völlig anwesend an seinem Platz in der Welt.
Auf der Rückfahrt wurde Glabrecht von Trauer
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