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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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geschüttelt. Ihre beiden Leben liefen unaufhaltsam nicht nur auseinander, sondern auch dem Ende entgegen, und die beiden Tode würden ganz ohne einander auskommen müssen. Die wenigen Optionen, die man hatte. Die wenigen Landschaften, die man kannte. Die wenigen Momente, in denen man ein Detail der Natur in erleuchteter Klarheit erfasste. Die wenigen bedeutenden Ereignisse, die einem widerfuhren. Es war eine so grausam kurze Strecke! Einer bog nach rechts ab, der andere nach links, und rasch waren zehn Jahre vergangen, zwanzig. Sie würden beide weit voneinander sterben, der eine eher als der andere. Auf jeden Fall würde es bald sein, nach ein paar weiteren Lebensepisoden von geringem Belang.
    Glabrecht hatte sich danach nicht mehr bei ihr gemeldet und sich keineswegs darüber gewundert, auch von ihr nichts mehr zu hören – bis zu dieser Postkarte vor sechs Jahren. Im Online-Telefonbuch hatte er neulich in der Nacht, getrieben von einem dieser wehmütigen Anfälle von Sehnsucht nach dem vergangenen Leben, vergeblich nach ihrem Namen gesucht, den sie auch in der Ehe behalten hatte. Sie trug einen seltenen Namen, Theresa Solling, Solling, wie das Mittelgebirge. Nur wenige Leute hießen so, eine Theresa war nicht dabei, weder in der Schweiz noch in Deutschland. Seine Wehmut hatte wohl weniger dem verschwundenen Leben gegolten als dem verschwundenen Lieben.
    Aber in Wahrheit stimmte auch dies nicht recht. Vielleicht war seine Fahndung nach vergangenen Lebensstationen eine Art Gebet? Vielleicht suchte er nichts Vergangenes, sondern etwas Ersehntes, so, als wollte er eigentlich nicht im Telefonbuch nachschlagen, sondern in einer heiligen Schrift?
    »Sie ist jetzt fünfundvierzig«, hatte er sich schließlich gesagt, in dieser schlaflosen Nacht am Computer, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Es war ihm allerdings nicht gelungen, ihr junges, liebesandächtiges Gesicht, das er mit viel Mühe wie eine kurze, geisterhafte Erscheinung in seine Erinnerung geladen hatte, als etwas unwiederbringlich Vergangenes zu empfinden oder sich gar auszumalen, wie es wohl gegenwärtig aussähe. Diese Art von Bildbearbeitungssoftware fehlte seinem seelischen Gedächtnis.
    Die Reise, die er mit seinem tödlich erkrankten Vater unternommen und deren Beginn sich soeben in seinem Traumgedächtnis inszeniert hatte, führte damals in das väterliche Lieblings- und Wunschland Italien, nach Bologna, nach Genua, nach Rom, mit dem Mietwagen zur Abtei Montecassino, die der Vater zuletzt 1944 in völlig zerstörtem Zustand gesehen hatte.
    Drei Monate nach der Reise war der Vater tot, und in den Umständen, die damals vorlagen, gab es eine ganze Reihe von Handlungen und Nichthandlungen, in denen Glabrechts Schuldfahndung fündig geworden war. Immer wieder musste er sich mildernde Umstände zubilligen, am besten in laut gesprochenen Belehrungen und Abmahnungen seiner selbst.
    Der Vater war immer sehr verschlossen gewesen. Alle seine Lebensgewohnheiten schienen einem einzigen rätselhaften Prinzip gehorcht zu haben, vielleicht so, als hätte er eine wichtige Geschichte verschwiegen und als sei dieses Schweigen für die gesamte elementare Verstocktheit und Leidensverweigerung verantwortlich gewesen, die an ihm aufgefallen war. Egal, was passiert war, er hatte keinen Schmerz gezeigt. Auch die Krebsdiagnose hatte er mit der bekannten Selbstverachtung weggesteckt: »So ist das, jetzt ist eben endlich Schluss.«
    Als Glabrecht ihn das letzte Mal lebend sah, wollte der Vater das Grab seiner Frau auf dem Friedhof in Wiesbaden besuchen. Er ging mühsam, sein Sohn musste ihn stützen, und er hatte ein tragbares Sauerstoffgerät vor der Brust. Ein Beatmungsstecker ragte in die Nasenlöcher. Dann, an der Grabstätte der Familie, an der gegenwärtig die letzte noch freie Fläche auf Dr. Georg Glabrecht lauerte, schauten damals wohl beide durch die Erde in die Tiefe und sahen die Frau und Mutter, wie sie da unten lag. Der Vater hatte während ihrer Beerdigung nicht geweint, jetzt aber flossen ihm die Tränen, und er musste die Sauerstoffdüsen mehrfach aus der Nase ziehen, um sein Taschentuch benutzen zu können.
    Während der Fahrt von Köln nach Wiesbaden – man war den Mittelrhein entlanggefahren, dann durch den Rheingau, durch die Heimat – hatte er seinem Sohn gestanden, in den vergangenen Jahren mehrfach am Grab gewesen zu sein. Seine Beerdigung würde die Wiedervereinigung mit seiner Frau bedeuten, nach vierunddreißig Jahren der räumlichen

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