Die große Verschwendung
genau zu«, während sie ihn kurz und überraschenderweise ganz ohne Scheu und ohne jeden Silberblick anschaute und unvermittelt lächelte, wobei sich der Mund, der eben noch derart schmal gewesen war, wie Glabrecht ihn noch nie erlebt hatte, urplötzlich weitete und die kleinen Zähne offenbarte. Dieses Lächeln war in einer Weise offen und herzlich – oder Glabrecht wollte es unbedingt so empfinden –, dass die energischen Zweifel, die er eben noch gehabt hatte, für Minuten verschwanden. Er hing an diesem Lächeln, keine Sekunde davon durfte er verpassen!
Später, im Hotelzimmer, und er rechnete schon gar nicht mehr damit, dass man sich näher kommen würde, schien Adriana aus einer Art Schlaf zu erwachen, als sie nämlich Glabrecht von einem Moment zum anderen küsste, sein Hemd aufknüpfte, so, als sei es niemals eine Frage gewesen, dass dieser Abend so und nicht anders enden würde.
Nach dem zweiten Treffen in Hamburg hatte er sie anschließend am Telefon gefragt, warum er sie stundenlang als fern und fremd empfunden hatte. Adriana hatte verständnislos reagiert. Wie er so etwas sagen könne! Sie sei ihm derart nahe gewesen, dass sie es kaum habe ertragen können, ihn anzuschauen.
Für Glabrecht hatten diese Sätze einen besonderen, einen paradox-poetischen Sinn, den nur ein intelligenter und gefühlvoller Mensch wie Glabrecht selbst verstehen konnte. Lediglich ein abgelegener Teil seines Verstandes gab zu Protokoll, dass hier lediglich einige Wörter gefallen waren, bloße Laute, für die ein Verliebter offenbar sofort die selbsterlebte Wirklichkeit zu widerrufen bereit war. Diese Randgedanken waren Notizen für die persönliche Registratur, für spätere Zeiten. Irgendwann würden die Aktennotizen aus den Archiven hervorgeholt und sehr intensiv studiert werden.
8.
An den Namen des Chefs der Nordic Urban Development , den man neuerdings fast täglich in den Feuilletons lesen konnte, hatte sich in Glabrechts Gehirn etwas angepflockt, eine Art Zwangsgedanke, der wahrscheinlich aus irgendeinem Blues-Text stammte. Auch während des Dienstalltags fiel der Name ja recht häufig, und jedes Mal, wenn Glabrecht diese beiden Wörter: »John Crawfield« aussprach, wenn er sie hörte, wenn er sie las, folgte in seinem Gehirn die Zeile »I am dying, when you mention his name«.
Übrigens rhythmisierten sich seine Läufe in den Wümmewiesen gegen seinen Willen mit jener Zeile, von der am Ende nur noch der erste Halbsatz übrig blieb. Zwei Silben Einatmen, zwei Silben Ausatmen, »I am« und »dying«, immer wieder.
Seit einigen Wochen hatte Glabrecht die Laufstrecke verlängert. Er rannte bis Fischerhude und zurück, meist samstags spätnachmittags. Auch deswegen tat er das, um nicht zu Hause zu sein, um nicht auf einen Anruf oder eine E-Mail zu warten.
Fast zwei Stunden lang war er bereits unterwegs an diesem Samstag im Mai, obwohl er kaum geschlafen hatte in der Nacht. Es war ein Frühlingstag von unirdischer Klarheit. Die Luft war ganz gewiss voller Ferne und Wehmut, auch wenn Glabrecht das eher aus Erfahrung wusste, als dass er es tatsächlich gespürt hätte. Crawfield war endlich aus seinem Kopf heraus, und eines notierte Glabrecht gerade als positiv zu bewertendes Ereignis, ohne dass das Positive in befriedigender Weise in ihn eindringen konnte: Die Vielfalt der Wiesenblumen an den Rändern der Wege war zurück! Auch saß die Schafstelze mit dem spektakulären kanarienvogelgelben Bauch wieder gleichförmig pfeifend auf der alten und schon etwas kranken Eiche, auf der er sie im vorigen Sommer entdeckt hatte. Glabrecht grüßte sie leicht mit der rechten Hand, im Stil der englischen Königin, wenn sie ihren Untertanen aus der Kutsche heraus zuwinkte. Das langsam dunkler werdende Blau des Himmels, an dem ein blasser Tagesmond stand, führte rein und klar bis hinunter zum Horizont, so weit der, über die Dächer der Stadt hinweg, sichtbar war. Die verschiedenen frischen Grüntöne, das Licht, der Duft, die Vögel hätten nun eigentlich im Wort »Frühling« zusammenfließen müssen. Dessen immerhin war Glabrecht sich bewusst.
Als er zu Hause ankam und sich dem Ritual widmen wollte, ein Glas Rotwein zu trinken und sich anschließend eine halbe Stunde hinzulegen, stand Marianne in der Küche neben der Dekantierkaraffe, in der jener Spätburgunder vom Bopparder Hamm wartete, auf den sich Glabrecht bereits den gesamten Tag über gefreut hatte. Vor dem Lauf hatte er ihn in die Karaffe gefüllt. Das Ganze
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