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Die große Verschwendung

Die große Verschwendung

Titel: Die große Verschwendung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schoemel
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Behältnis zu gelangen, musste er sich selbst miniaturisieren. Von einer auf die andere Sekunde verschwand er vor den Augen seiner Mitbürger, wurde mikroskopisch klein, unsichtbar und glücklich. Damals gab es elektrische Eisenbahnen, Autos sowie Spezialbälle, die gedankengesteuert ins gegnerische Tor fliegen konnten. Auch ein Flugzeug war vorhanden, das wie ein Fahrrad angetrieben wurde und die ganze Welt beherrschen konnte, außerdem viel Kleingeld für italienisches Speiseeis. Heute befanden sich lediglich eine teure Herrenuhr im Safe sowie druckfrische Hundert-Euroscheine, und Glabrecht konnte seine normale Körpergröße beibehalten, als er das Behältnis öffnete.
    Zwei, drei Tage vorher hatte er sich das Onanieren verboten, er war ja nicht mehr der Jüngste. Und wie war der Sex? Ein bisschen kalt, oder? Hatte es die Metamorphose ihres Gesichtes gegeben, die er sich ersehnt hatte? Das Zutagetreten eines innersten Wesens, ihrer Seele, kurz vor ihrem Orgasmus? War das nicht allzu routiniert abgelaufen bei ihr, wie bei einer Luxusprostituierten? Hatte sie Crawfield ebenso perfekt fellationiert, damals, romantisch in der Karibik, im Mondenschein und so weiter? Tat sie es immer noch?
    Mein Gott, wie er alles in den Dreck redete, in vorauseilender Verletztheit! Welch ein entsetzlicher, ein verabscheuungswürdiger Mensch war er doch. Er hatte tatsächlich rein gar nichts von dem verdient, das Glück hieß. Die Wahrheit war doch, dass es brannte, dort unten in seinem Solarplexus! Da saß jenes düstere Sehnsuchtsbrennen, das ebenso sehr ein Angstbrennen war. Da gab es das Gefühl, wie sie auf ihm gelegen hatte. Ihr Bauch lag auf seinem Bauch. Ja, tatsächlich, es war ein schöner junger Frauenkörper auf einem anderen, einem Männerkörper, der schon lange gegen die Zeichen des Verfalls und um die Konservierung des biologischen Status quo kämpfte: ein Bild wie das Leben selbst. Achtzehn Frühlinge waren es, die sie trennten, Adriana war einunddreißig. Wenn sie so alt sein würde, wie Glabrecht heute war, würden ihr, in der Rückschau, achtzehn Lebensjahre sehr kurz erscheinen. Sehr rasch würden ihr diese Jahre vergangen sein, viel zu rasch. Und die folgenden achtzehn Jahre würden noch viel schneller vergehen. So war das, aber nichts half dagegen.
    Hatte es nicht ihren nassen und gierigen Mund beim Küssen gegeben? Und war es nicht wieder so gewesen, dass schließlich nicht nur sein Sperma, sondern ein großer Teil seines gesamten Lebens in Adriana hineingeströmt war, in diese größte Belohnung für sein Männerdasein? Aber unmittelbar danach, vielleicht sogar während des Ejakulierens hatte er die Frage in sich gehabt, auf was genau sich dieses universelle glücksbesoffene Verströmen berief – und ob Adriana Ähnliches spürte. Denn eines war ebenso gewiss: Es war nicht mehr so gewesen, wie er es in Davos erlebt hatte, oder wie er es erlebt zu haben glaubte. Sonst hätten seine Augen und seine Ohren, die Fingerkuppen sowieso, es doch gemerkt!
    All dies war nicht ausreichend gewesen für die ersehnte Glücksgewissheit. Nichts wäre ausreichend gewesen, nicht einmal die Möglichkeit, Adrianas Gefühle zu lesen und dort genau das zu finden, was er zu finden wünschte. Die Angst fraß täglich an Glabrecht, wie der Adler Ethon an der Leber des Prometheus.
    In Hamburg hatte es reichlich Alkohol gebraucht, um die Erstarrung zu lösen, die anfänglich herrschte und die Glabrecht nicht beruhigend genug damit erklären konnte, dass sie sich beide in der Realität zunächst mühsam zu jenen Stimmungshöhen hinaufhangeln mussten, die sie per E-Mail oder SMS sehr leicht, im Flug, oder besser gesagt, fast mit Lichtgeschwindigkeit erreichten. Beide Male ein sehr ähnlicher Ablauf: Sie war von Fuhlsbüttel ins Grand Elysée gekommen, wo er in der Halle auf sie gewartet hatte. Selbstverständlich begrüßten sie einander sehr förmlich, auch waren zwei Einzelzimmer gebucht. Aber das Benehmen wollte sich nicht ändern, auch nicht, als sie allein waren, und später wurde es kaum besser, im Restaurant, als Adriana ständig ihren Blick um Glabrechts Kopf herum kreisen ließ, anstatt ihm in die Augen zu schauen. Alles andere schien interessanter zu sein, als er das war, nicht etwa nur die vorüber fahrenden Schiffe, die Lichter der Werft am anderen Elbufer, nein, einfach alles. Gelegentlich wiederholte er seine Sätze, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass er sie als abwesend erlebte, aber sie sagte jedes Mal: »Ich höre dir

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