Die große Verschwendung
Glabrecht, nach einer kleinen Pause. »Wie kommst du drauf? Weil er mir neulich nicht gestanden hat? Er steht doch bei einem Ehemann angeblich besonders gut, wenn er neben seiner Ehefrau noch eine andere hat.«
Das alles dauerte noch mindestens eine Stunde lang und endete mit Mariannes Ankündigung, sich eine eigene Wohnung zu suchen.
»Und wer kriegt das Sorgerecht für Lilli?«, sagte Glabrecht, während er, noch immer in seinen verschwitzten Sportklamotten, die Treppe hochging.
Zuletzt, am Ende des zurückliegenden Disputs, war seine Sehnsucht nach Adriana stärker geworden, so, als hätte er einen warmen Ort, eine Zuflucht, deren Vorhandensein ihm vorübergehend entfallen war und die ihm jetzt wieder tröstlich ins Bewusstsein kam. Eine große mütterliche Wundertüte voller Pläne öffnete sich beim Treppensteigen und zeigte ihm ihren Inhalt, noch ehe er oben angekommen war: sein Haus, ganz für sie beide da, ein offiziell von seiner Frau getrennter Georg Glabrecht! Urlaubsreisen! Freiheit! Tausendfacher Geschlechtsverkehr! Adriana und er mit ihren Körpern beieinander, verschmolzen!
Oben, auf der letzten Treppenstufe, blieb er stehen, überwältigt und entkräftet vom Geschehen und – noch mehr – von seinen Wünschen und davon, dass er in seinem fünfzigjährigen Leben nicht weiter gekommen war als bis zu diesem Geschehen und zu diesen entsetzlich dummen Wünschen, die offenbar hemmungslos zum Vorschein traten, sobald sie den Respekt vor der Intelligenz verloren hatten.
Schon während des Duschens stieg dann seine Angst die Unterschenkel hoch und nistete sich im Oberbauch ein. Etwas drohte, von ihm wegzugehen, eine Vertraute, etwas Heimat vielleicht, eine verlässliche Fürsorge? Das Wasser prasselte auf ihn nieder, er starrte auf eine Fliesenfuge, die unbedingt ausgebessert werden musste. Was würde aus ihm werden, wenn die Sache schief ging? Und sie würde garantiert schief gehen. Drei-, viermal täglich hatte er Kontakt mit Adriana. SMS gingen hin und her, E-Mails. Vom Büro aus rief er sie in Oslo an. Er war süchtig nach ihrer Stimme und den Botschaften, den Texten, die sie ihm schickte und die er, während er sie las, mit ihrer Stimme gesprochen hörte. Süchtig war er danach, dass sie »Georg« sagte, mit abfallender Stimmmelodie, nach seinem Namen aus ihrem Mund – ein Geschenk des Himmels.
Bereits wenige Stunden später traten jedes Mal die Mangelzustände wieder auf. Er sagte selbst »Georg« zu sich, laut in sein Büro hinein, leise genug, damit Frau Scholz es nicht hörte. Er sagte es mit abfallender Stimmmelodie, er hauchte es wie ein Liebender, um seinen Entzug zu lindern. Ein großes Leidenspotenzial war da für ihn zusammengeflossen, und es wartete auf die Stunde seiner absoluten Macht. Manchmal nach den Telefonaten war er minutenlang starr und spürte, wie es dunkel wurde unter ihm.
Spät am Abend nach dem Gespräch mit Marianne saß er in seinem Arbeitszimmer und versuchte, sich auf das Leeren der Weinkaraffe zu konzentrieren, die bereits aus einer neuen Flasche nachgefüllt worden war. Unten im Haus war kein Laut mehr zu hören, vermutlich hatte Marianne sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Ob sie Ernst machen würde? Lilli war wieder mit ihm zusammen im Zimmer und strich um seine Beine, was ihn plötzlich elementar anrührte. So ein warmes kleines Lebewesen! Er nahm sie auf den Schoß und streichelte sie. Ein paar Tränen entkrochen ihm.
Er musste endlich die Fragen stellen, die er schon während der Nacht in Davos hätte stellen müssen! Lange saß er starr, sein Körper lehnte die Befolgung der Befehle ab, die er erhielt. Je länger dieser Zustand dauerte, umso lauter wurde das Zirpen im Ohr. Glabrechts Hände zitterten, als er endlich eine SMS an Adriana schrieb: »Vermisse dich! Kann ich dich anrufen?«
Abermals wartete er eine halbe Stunde, glotzte in die Vorsehung , die er hochgefahren hatte, und versuchte dabei, an nichts zu denken. Unter seinen Internet-Favoriten waren sämtliche Pornoseiten gelöscht. Seit Davos hatte er nicht ein einziges Mal das Tor zur Hölle aufgemacht. Sogar die Erinnerungen daran hätte er gern aus seinem Gedächtnis gelöscht.
»Sancta, sancta, domina! Sancta, Adriana! Pleni sunt caeli et terra gloria tua!«, sagte er schließlich, mit ganz und gar aussichtslosem Spott gegen sich selbst.
Wie sah es denn in Oslo aus? Die Webcams zeigten dunkle, verregnete Straßen, schwerer Nebel hing über dem Holmenkollen. Jetzt endlich kam die Antwort: »Bin zu
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