Die große Verschwendung
oben nach unten, mehrfach hintereinander. Sie ließ ihre Hände auf seinen Schläfen ruhen und massierte seine Stirn mit ihren Daumen. Glabrechts Gesicht glättete sich. Adriana wusste viel über Männer. Oder wusste sie viel über Männer wie ihn? Und er schloss ein paar Sekunden lang die Augen. Schließlich löste sie die rechte Hand von seiner Schläfe, fuhr mit der Fläche dieser Hand, die Glabrecht wegen der großen Nähe eher erahnen als betrachten konnte, langsam und ohne ihn zu berühren in geringstem Abstand sein Gesicht hinunter, vom Vorderhaupt über die Stirn, an der Spitze seiner Nase vorbei, so dass er die Wärmestrahlung der Handfläche spüren konnte, die außerdem seinen Atem auffing und gegen die Oberlippe lenkte. Dann hielt Adriana inne, an seinem Mund, und mit Zeigefinger und Mittelfinger strich sie seine Lippen entlang, legte dann beide Hände auf seinen Hinterkopf, zog ihn sehr langsam heran und küsste ihn leicht auf den Mund. Hierauf sank sie an ihm hinab auf die Knie und begann ihn zu lutschen, ohne dabei ihre Hände zu gebrauchen, die sie in seinen Kniekehlen gelagert hatte, mit geschlossenen Augen, in stetem Rhythmus und mit einem indiskutabel klaren Ziel.
Frühmorgens war sie in ihr eigenes Hotelzimmer gegangen, hatte Glabrechts Türkarte mitgenommen, mit dem Versprechen, zum Abschiednehmen noch einmal zurückzukommen. Glabrecht hatte gewartet und sich dabei eingeredet, das Bevorstehende könne nichts Neues bringen, weil jeder Abschied innerlich vollzogen sei, ehe er äußerlich genommen werde. Schließlich erschien Adriana, bereits im Wintermantel, schloss die Tür, senkte die Reisetasche auf den Boden, wobei sie mit dem freien Arm eine irgendwie linkische Geste machte. Glabrecht, nachdem er in einer einzigen flüssigen Bewegung die Beine über die Bettkante geworfen und auf Adriana zugegangen war, erfasste mit beiden Händen diejenigen Adrianas, hob sie in die Höhe, senkte sie wieder ab und löste seinen Griff.
Mit dem verschwimmenden Blick ihrer Augen, den er zum ersten Mal in Oslo gesehen hatte, stand sie vor ihm. Tiefgründig war dieser Blick, bodenlos. Glabrecht spürte, dass er weichzeichnete, was er gerade erfasste.
6.
Dieser Moment, damals in Davos, als sie beide zum Abschiednehmen an der Tür seines Hotelzimmers standen, war gewiss eine von diesen entscheidend wichtigen Situationen gewesen, wie sie die Geschichte aller Liebenden prägen. Aber Glabrecht wusste nicht, was sie zu bedeuten hatte.
Wochen waren vergangen. Die Verträge waren Ende Januar unterzeichnet worden, und bereits im Februar lag die Einladung der Liechtensteiner Stiftung für Globales Handeln vor, den augenblicklich vakanten Posten im siebenköpfigen Stiftungsrat zu übernehmen. Glabrecht sagte zu, auch deswegen, weil neben den, wie es hieß, »allfälligen Kosten für die Ratstätigkeit« kein Honorar versprochen wurde. Niemand würde Glabrecht irgendetwas vorwerfen können, und sollte er im September nicht mehr gewählt werden, nun – dann würde man weiter sehen.
Inzwischen war es später Mai geworden, schönes, mäßig warmes Hochdruckwetter herrschte. Halsunter am Gartenzaun des Borgfelder Hauses hing die erfolgreich abgedichtete Magnum-Flasche mit dem Nesselzweig. Glabrecht vermutete, dass sich die kleinen weißen Stellen, die rings um den Schnitt zu sehen waren, tatsächlich im Wasser zu Wurzeln entwickeln würden. Allerdings krümmte sich der Zweig mit den Blättern in einer Haarnadelkurve nach oben, was das gesamte Experiment zu sabotieren drohte. Schon hatte die Spitze der Pflanze den Flaschenhals erreicht.
Glabrecht trug bereits Baumwollanzüge, und sein Schuhregal präsentierte die Seite mit den leichten Sommerschuhen. Vor einigen Wochen hatte der Penner nach langer Abwesenheit plötzlich wieder an der Behörde gesessen. Aber die »Vernichtung« schien sich nicht nur bei Glabrecht, sondern auch bei ihm während des Winters verflüchtigt zu haben. Stattdessen hatte er vor sich hin gesabbert und gebrabbelt, eine Verschwörung finde statt gegen das »deutsche Volk«, wobei nur noch das Wort »Verschwörung« laut geworden war, ohne gerolltes »r«, aber mit gedehntem »ö« in der Mitte.
Der Zustand des Mannes hatte sich deutlich verschlechtert. Immer noch trug er die braune Lederjacke vom vergangenen Jahr, aber sie hatte inzwischen Löcher und viele speckig-schmutzige Stellen. Seinen alten Kunden, den Wirtschaftssenator der Freien Hansestadt Bremen, hatte er nicht mehr erkannt, und seit ein
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