Die große Verschwendung
design herzustellen, das die Toten einander näherbrachte. Aber er hatte ein böses Gefühl, ein schlechtes Gewissen, als er an diesem blendend hellen Junimorgen vor den steinbedeckten Gräbern stand, so, als hätte er aus bloßer Bequemlichkeit die Einsamkeit der beiden da unten besiegelt, ihnen die letzte Luft und das letzte Licht geraubt.
Er stand vor den Granitplatten, und sein Handy brummte in der Jackentasche. Adriana rief ihn an, genau neun Uhr war es. Das tat sie seit einigen Tagen regelmäßig, normalerweise, um zu fragen, ob er in seinem Büro sitze und ob sie ihn auf dem Festnetz erreichen könne. Wenn sie fragte, was er denn gerade mache, dann klang ihm das wie der Satz: »Gern wäre ich jetzt bei dir.« Er war ihr sehr dankbar und stellte keine Fragen nach den Gründen für diese neue Angewohnheit. Nachdem er sich einmal um sich selbst gedreht hatte, um Gewissheit zu haben, dass niemand in der Nähe war, rief er sie zurück. Vor dem Grab seiner Eltern, überhaupt: Auf dem Friedhof in ein Handy zu sprechen, das war ihm eigentlich sehr unangenehm. Sie denke an ihn, sagte sie, und sie wünsche ihm Kraft, und wann sie einander sähen? – Wie hatte er an ihr zweifeln können?
Um seine unschuldig begrabenen Eltern künftig ein wenig näher bei sich zu haben, zog er dann die beiden kleinen grünen Grabschilder mit ihren Namen, ihren Geburts- und Sterbetagen aus der Erde, säuberte sie, steckte sie in die Ledermappe, die er eigens zu diesem Zweck mit sich trug. Das Schild seiner Mutter war bereits deutlich verblichen. Als er das Todesdatum las, spürte er die dröhnende Hitze dieser Tage und Nächte damals, als Marianne, angesichts seiner völligen Lähmung, die Beerdigung organisiert hatte. Was überhaupt wäre aus ihm geworden ohne Marianne? Von Anfang an hatte sie die Dinge von ihm ferngehalten, die seine soziale Angst wachriefen. In Wahrheit war er nur dann mutig, wenn er als Amtsträger handelte. Privat fürchtete er sich nicht nur vor schimpfenden Pennern, sondern sogar davor, einen Fremden nach dem Weg zu fragen. Sein schönes Haus da in Bremen, mit seinen diversen Weinlagerstätten, sein Amt als Senator, die feinen Klamotten! Glabrecht dachte an die muffige Stube, in der er gewohnt hatte, ehe er Marianne kennen lernte, an seine umfassende Lebensschwäche, die sich tatsächlich abgemildert hatte, als er und Marianne ein Paar geworden waren.
Schon am Abend nach der Beerdigung saß er im ICE zurück nach Bremen und entschuldigte sich telefonisch bei Madlé dafür, ihn schon wieder nicht besucht zu haben. Das Treffen würden sie aber alsbald arrangieren, sagte er. Die neuerliche Krise der Maritimen Erlebniswelt rechtfertigte die Eile seiner Abreise. Es hatte sich in jener Woche herausgestellt, dass die Kostenplanung für das Kernprojekt, die Maritime Oper und die Sea-World , unrealistisch gewesen war. Vor dem ersten Spatenstich, der Mitte August stattfinden sollte, mussten neue Zahlen vorgelegt werden. Vor allem die Pfahlgründungen im Schlickboden würden viel aufwändiger werden, als dies am Anfang von den Architekten dargestellt worden war. Mindestens vierzig Millionen Euro würden hinzukommen – sagte das vom Senat und von der Nordic Urban Development gegründete Investorenkonsortium, und dieses Geld würde vom Senat zu erbringen sein.
Das würde nicht das Ende der Kostensteigerungen sein, da war sich Glabrecht sicher. »Der Leuchtturm schwankt«, hatte die dpa ihre Meldung überschrieben. Bürgermeister Alte eilte gerade von Interview zu Interview, um ihn wieder zu stabilisieren.
Mariannes Entschlusswut war offenbar durch den Tod ihres Vaters angefeuert worden. Oder hatte Glabrecht mit seinem Verhalten während der Beerdigung die Lage verschärft? Aber hatte er nicht sein Bestes gegeben in Wiesbaden, war er nicht gefasst und ernst gewesen, hatte er nicht milde Sätze formuliert? Sie wollte wohl, nach diesem existentiellen Fußtritt, der sie getroffen hatte, ihr Leben neu ordnen, was verständlich war. Am Telefon – sie hielt sich noch in Wiesbaden bei ihrem Bruder auf – kündigte sie an, nach ihrer Rückkehr umgehend in die Nachbarschaft von Annie und Fred zu ziehen, nach Worpswede also. Die betreffende Wohnung sei zufällig gerade frei geworden.
Ob Glabrecht dies glauben konnte? Eher nicht. Das alles schien ihm doch von längerer Hand vorbereitet zu sein. Ein Zorn stieg in ihm auf. In Worpswede – da würde Marianne sich ja der Nordic Walking Truppe von Annie anschließen können, bloß: Ob
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