Die große Verschwendung
unablässig vorhanden, wie eine Charaktereigenschaft. Plötzlich kam ein ganzer Schwall Magensäure hoch, Salzsäure, von der Bitternis des Koffeins verstärkt, stieg bis in Glabrechts Mund. Das Herz schlug schon die ganze Zeit viel zu langsam und zu hart. Glabrechts linke Hand, die am Tischrand auflag, wurde vom Herzschlag bewegt. Genauer gesagt, sie zuckte etwas zeitversetzt, vielleicht eine Zehntelsekunde nach jedem Herzschlag. Alles hing an diesem Herzschlag, alles würde sofort vorbei sein, wenn das Herz zu schlagen aufhörte, was sekündlich passieren konnte.
Plötzlich brach jetzt die Todesangst aus, die Glabrecht ständig wie einen pervertierten, aber tagsüber meist diskreten Schutzengel mit sich führte. Nicht irgendwann, sondern bald, nein jetzt musste er sterben. Der Moment war gekommen, an den er in Wahrheit nie hatte glauben wollen. Das Grauen, die Stunde des Todes, die Vernichtung waren angekommen bei ihm, so dicht bei ihm wie sonst nur in den entsetzlichen Stunden zwischen zwei und fünf Uhr morgens. Ein schwarzer Schleier fiel ihm vor die Augen, er hatte kein Gefühl mehr für oben oder unten. Glabrecht wusste, was zu tun war, dass er sich nämlich sofort nach vorne zu beugen hatte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der Gleichgewichtssinn zurückkehrte, bis Glabrecht wieder aufrecht saß. Er schluckte die Säure runter, erhob sich, sagte leise »Entschuldigung«, verließ den Raum. Zum Glück war niemand sonst in der Herrentoilette. Aber als er vor der Kloschüssel stand, konnte er trotz der furchtbaren Übelkeit nicht kotzen. Also legte er ein Knäuel aus Klopapier auf den Boden, kniete sich vor die Schüssel, den Deckel klappte er hoch, und dann betrachtete er sich die Kackespritzer auf dem weißen Porzellanrand, eingetrocknete Beamtenkacke, stellte sich den Mundgeruch von Sedlmayr vor, und als auch das nichts half, weil man sich Gerüche kaum vorstellen konnte, saugte er die Luft aus der Schüssel ein. Dann endlich – übler als ihm konnte es keinem Menschen sein – schoss es aus ihm heraus, eine grünbraune Brühe, nach Galle schmeckend, einige Brocken vom mühsam eingenommenen Frühstück waren dabei. Noch während er würgte und spuckte, nach Luft schnappte, wich alle Kraft aus seinem Körper. Er zitterte, die Haut war schweißbedeckt und kalt, in seinem linken Ohr feilte sehr laut der Tinnitus. Wie es wohl gewesen wäre, hier zu verrecken, mit dem Kopf in die Kloschüssel zu sinken und irgendwann gefunden zu werden? Was würde BILD schreiben?
Wenige Minuten später – er hatte sich, vor dem Spiegel stehend, den Mund ausgespült, mit einem Papierhandtuch Schweiß und Fett vom Gesicht gewischt, geprüft, ob keine Kotzespritzer auf der Krawatte oder auf dem Anzug waren, dann einige Male probegelächelt, um die Mimik aufzulockern, wobei er, wie stets vor bösen fremden Spiegeln, zum Weichzeichnen seines Gesichtsabbildes und als routinierte Maßnahme gegen den Rasierblick die Augen zusammengekniffen hatte – befand er sich wieder auf seinem Sitzplatz, lächelte und sprach. Seine Stimme war durch die Magensäure leicht heiser geworden.
11.
Am Ende würden sie alle mitmachen beim finalen Sternmarsch zum Wiesbadener Nordfriedhof, Marianne, ihr Bruder Achim, dessen beiden Söhne und Mariannes Mutter Gerda. Und Glabrecht selbst natürlich. Seine beiden Eltern waren ja bereits anwesend hier, ebenso die beiden Geschwister seiner Mutter.
Klaus hing gerade in den Seilen und schwebte hinab in die Grube. Die Totengräber hatten keine Mühe mit dem dürren Kerl. Am Eingang zum Friedhof hatte Glabrecht eine Tafel gesehen, die die wichtige Funktion der Wiesbadener Friedhöfe als »wesentliche Bausteine des innerstädtischen Grünsystems und für das Stadtklima« hervorhob. Diese geisteskranke Formulierung wurde er nun nicht mehr los. Sollte Adriana einst den toten Georg Glabrecht besuchen, würde sie zunächst dieses Schild lesen müssen.
Marianne, in den Armen ihres Bruders, schüttelte sich vor Weinen, als sie die symbolische Erde auf den Sarg schippte und als dieser, von der Erde getroffen, den typischen dunklen, prasselnden Klang von sich gab, der Glabrecht, wie nichts anderes, für den Horror des Todes und des Begrabenwerdens stand.
Vor der Beerdigung von Klaus hatte er die Gräber seiner Eltern aufgesucht. Im vergangenen Jahr hatte er sie mit zwei identischen Granitplatten bedecken lassen, nicht nur, um sicherzustellen, dass das alles ordentlich aussah, sondern auch um eine Art corporate
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