Die große Verschwendung
Freitag beerdigt werden.
Marianne und Glabrecht hatten inzwischen mehrere Male miteinander telefoniert. Sie klang sachlich und kühl, zeigte absolut keinen Schmerz über den Tod ihres Vaters. Es war unheimlich. Kein Wort fiel über die vor dem Ende stehende Ehe. Donnerstagnachmittag würde Glabrecht nach Wiesbaden reisen.
Folgendes Bild fuhr gerade durch sein Gehirn: Sedlmayr lag unter der Erde im Sarg, die Augen waren weggetrocknet, die Hoden hatten die Haut durchbrochen, waren schwarze Dörrpflaumen. Der Bauchinhalt war grünlich-braun und geleeförmig. Die Lippen waren unregelmäßig zurückgefault, die Zähne frei. Bei Glabrecht würde das ähnlich aussehen, ein paar Jahre später vielleicht, vielleicht aber auch ein paar Jahre früher, aber was überhaupt bedeuteten ein paar Jahre?
Er sagte immer häufiger »neulich«, wenn er über etwas redete, das drei, vier Jahre zurücklag. Fünfmal »neulich« wären also bereits zwanzig Jahre! Außerdem vermehrten sich die Situationen, in denen ihm sein fünfzigjähriges Dasein urplötzlich wie eine ganz kurze Episode erschien, so, als steckte er nicht mitten drinnen in diesem Dasein, sondern blickte tausend Jahre später zurück auf sein Leben. In einem solchen Zustand benutzte er Sätze für seine verstrichene Lebenszeit, die ähnlich denjenigen klangen, die er zur Beschreibung eines Jahres oder einiger Monate verwendete. Diese kosmologische Sicht auf sein Leben flog ihn unvermittelt an, meist aus der Natur, aus dem Wald, von den Bergen, aber auch aus irgendeinem völlig belanglosen Satz, den er irgendwo aufschnappte, aus heiterem Himmel jedenfalls, und sie führte ihn direkt in eine sekunden- oder minutenlang empfundene innige Todesnähe, die ihn in seiner jeweiligen Tätigkeit abrupt stoppte. Manchmal erstarrte er dann mitten in einer Bewegung, einem Denk- oder Gefühlsprozess, als sei einer jener Lähmungsstrahler auf ihn gerichtet, wie sie in Science-Fiction-Filmen zum Einsatz kamen.
Glabrecht vermutete, dass auch die häufigen Bewegungsverweigerungen seines Körpers in Wahrheit genau aus solchen Lähmungen bestanden, ebenfalls die Emotionsverweigerungen seiner Seele, die Marianne ihm vorwarf. Wahrscheinlich war vorher immer ein ganz kurzer Panoramablick auf seine Lebenszeit gefallen, auch wenn ihm das gar nicht bewusst geworden war. Neulich, als der Aufzug in seiner Behörde oben angekommen war, hatte er ihn nicht verlassen können. Es war einfach unmöglich gewesen, sich zu bewegen. Während der Fahrt war diese schreckliche Blickweise entstanden, so, als habe der Aufzug kein Bauwerk durchmessen, sondern verschiedene Stockwerke der Seele. Glabrecht, körperlich und mental vollkommen zur Erstarrung gekommen, war noch einmal hinunter ins Erdgeschoss gefahren, noch einmal nach oben, um das alles in den Griff zu bekommen, ehe er schließlich die Kraft gehabt hatte, in sein Büro zu gehen und die Gedanken weiter zu denken, die er eigentlich nie mehr hatte denken wollen.
Ihm war jetzt ganz furchtbar übel. Elvira bediente den Computer, klickte auf Wink die jeweils nächste PowerPoint -Folie an. Diese Show verlieh den ganzen Nichtigkeiten und leeren Parolen den Anschein von Autorität. Sie war die Zauberschrift an der Wand, die den Teufel heraufbeschwor, in diesem Fall in Gestalt der Olympischen Spiele in Bremen. Sedlmayr las alles noch einmal laut vor, um die Macht der Wörter zu verstärken, während er außerdem mit dem Laserpointer auf die Wörter deutete, die er gerade ausgesprochen hatte, so, als stände er vor einer Horde geistig Behinderter.
Die »Studie«, die hier gezeigt wurde, hatten, genau wie das Gutachten »Who is Bremen?«, die Berater der Firma Roland Berger Strategy Consultants erstellt, im Auftrag des Senats und der Olympia-GmbH , unter anderem also auch von Glabrecht selbst. Sie hatte mehrere Hunderttausend Euro gekostet. Der Marketing-Sprachmüll, den er da hörte und der ihm zusetzte wie ein fauler Fisch, war ganz ohne Zweifel aus zig ähnlichen Studien zusammengeschrieben worden. Eine ganze Anzahl der Formulierungen kannte Glabrecht bereits aus dem älteren Gutachten.
Manchmal drehte sich Sedlmayr lächelnd zu ihm hin, zum Senator. (Ich bin ja tatsächlich ein Senator, sagte sich Glabrecht, wie grotesk!) Sedlmayr wandte sich zu ihm, und wieder waren seine Zähne zu sehen. Besonders die unteren Schneidezähne waren lang und bräunlich verfärbt. Glabrecht erinnerte sich an den Mundgeruch Sedlmayrs. Er war nicht sehr stark, dieser Geruch, aber
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