Die große Zukunft des Buches
Kann man sich gut ausdrücken, wenn man nicht lesen und schreiben kann?
U. E.: Homer würde zweifellos antworten: ja.
J.-C. C.: Aber Homer gehört einer oralen Tradition an. Sein Wissen und seine Kenntnisse hat er durch das Medium dieser Tradition erworben, zu einer Zeit, als es in Griechenland noch nichts Geschriebenes gab. Kann man sich heute einen Schriftsteller vorstellen, der seinen Roman diktiert, ohne die vermittelnde Funktion des Geschriebenen, und der nichts kennt von der Literatur, die ihm vorausgegangen ist? Vielleicht würde sein Werk den Charme des Naiven besitzen, der Entdeckung, des Unerhörten. Mir scheint aber doch, es würde ihm etwas fehlen, etwas, was wir in Ermangelung eines besseren Ausdrucks Kultur nennen. Rimbaud war ein wunderbar begabter junger Mann, Autor unnachahmlicher Verse. Aber er war nicht das, was man einen Autodidakten nennt. Mit sechzehn Jahren besaß er bereits eine solide klassische Bildung. Er konnte lateinische Verse dichten.
Nichts Vergänglicheres
als dauerhafte Datenträger
J.-P. DE T.: Wir fragen hier nach dem Fortbestand der Bücher in einer Zeit, da die Kultur anderen, vielleicht leistungsfähigeren Werkzeugen den Vorzug zu geben scheint. Doch was soll man von Datenträgern halten, die Informationen und persönliche Erinnerung angeblich dauerhaft speichern können, ich denke da zum Beispiel an Disketten, Videokassetten oder CD-ROMS, von denen man schon wieder abgekommen ist?
J.-C. C.: 1985 bat mich der damalige Kulturminister Jack Lang, eine Hochschule für Film und Fernsehen aufzubauen und verantwortlich zu leiten, die Fémis. Daraufhin habe ich unter der Leitung von Jack Gajos ein Team von sehr guten Technikern zusammengestellt und die Geschicke dieser Schule zehn Jahre lang, von 1986 bis 1996, gelenkt. In diesen zehn Jahren musste ich mich natürlich über sämtliche Neuerungen auf dem Laufenden halten, die unsere Gebiete betrafen.
Ein wirkliches Problem, das sich uns stellte, war ganz einfach die Vorführung der Filme für die Studenten. Wenn man einen Film ansieht, um ihn zu studieren und zu analysieren, muss man die Vorführung unterbrechen können, zurückgehen, anhalten, manchmal Bild für Bild vorgehen. Mit einer klassischen Filmkopie ist das nicht möglich. Damals hatte man Videokassetten, aber die waren sehr schnell verschlissen. Nach drei, vier Jahren im Einsatz waren sie nichtmehr zu gebrauchen. Um die gleiche Zeit wurde die Vidéothèque de Paris gegründet, wo sämtliche Foto- und Filmdokumente über die Hauptstadt aufbewahrt werden sollten. Bei der Archivierung des Bildmaterials hatten wir die Wahl zwischen der Videokassette und der CD, was wir damals eben als »dauerhafte Datenträger« bezeichneten. Die Vidéothèque de Paris hat sich für die VHS-Kassette entschieden und in dieser Richtung investiert. Andernorts hat man auch Floppy Discs ausprobiert, die von den Verkäufern als die reinsten Wunderdinge angepriesen wurden. Zwei oder drei Jahre später ist dann in Kalifornien die CD-ROM (Compact Disc Read-Only Memory) aufgetaucht. Wir dachten, das sei die ultimative Lösung. Bei allen Vorführungen wurde sie geradezu hymnisch gefeiert. Ich erinnere mich an die erste CD-ROM, die wir zu Gesicht bekamen: Es ging um Ägypten. Wir waren verblüfft und vollkommen überzeugt. Alle Welt verneigte sich vor dieser Innovation, die anscheinend sämtliche Schwierigkeiten lösen konnte, mit denen wir Bild- und Archivierungsexperten uns schon seit langem herumschlugen. Mittlerweile haben aber die Fabriken in den USA, in denen diese Wunderdinge produziert wurden, seit sieben Jahren dichtgemacht.
Andererseits bieten Handys und verschiedene i-Pods ein sich ständig vergrößerndes Spektrum möglicher Anwendungen. Die Japaner, erzählt man, schreiben Romane darauf und reichen sie in dieser Form ein. Das inzwischen mobile Internet überwindet den Raum. Man verheißt uns den Triumph des VOD (Video On Demand), zusammenklappbare Bildschirme und andere Wunder mehr. Wer weiß?
Das hört sich an, als würde ich von einem sehr langen Zeitraum sprechen, scheinbar von Jahrhunderten. Dabei handelt es sich gerade einmal um zwanzig Jahre. Man vergisst sehrschnell. Immer schneller vielleicht. Diese Überlegungen sind banal, zweifellos, aber das Banale ist notwendiges Gepäck, jedenfalls am Anfang einer Reise.
U. E.: Es ist noch nicht lange her, da wurde die gesamte Patrologia latina von Migne (das sind 221 Bände!) auf CD-ROM angeboten, zum Preis von 50000
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