Die großen Vier
Schlankheit wurde betont durch einen langen, weißen Mantel und eine weiße Kappe, die ihren Kopf umhüllte. Sie hatte ein schmales, bleiches Gesicht und wundervolle dunkle Augen, die beinahe schwärmerisch leuchteten. Sie glich eher einer Priesterin alter Zeiten als einer modernen Französin. Die eine Wange war durch eine Narbe entstellt, und ich erinnerte mich, dass ihr Gatte und sein Assistent vor drei Jahren bei einer Explosion im Laboratorium getötet wurden, während sie schreckliche Verbrennungen davongetragen hatte. Seither hatte sie sich von der Umwelt abgeschlossen und sich mit wahrem Eifer in ihre wissenschaftlichen Arbeiten vertieft. Sie empfing uns mit kühler Höflichkeit.
«Ich bin bereits des Öfteren durch die Polizei vernommen worden, meine Herren. Ich glaube daher kaum, dass ich Ihnen noch irgendwie von Nutzen sein kann, da ich auch der Polizei keine befriedigende Auskunft habe geben können.»
«Madame, es ist durchaus wahrscheinlich, dass meine Fragen von denen der Polizei abweichen. Um gleich zu beginnen, was war der Inhalt Ihrer Gespräche mit Mr Halliday?»
Sie sah etwas überrascht auf.
«Natürlich seine Arbeit! Seine Arbeit und auch die meine.»
«Erzählte er Ihnen auch über seinen Vortrag, welchen er vor nicht allzu langer Zeit vor einem britischen Auditorium gehalten hat?»
«Natürlich tat er das. Es war das Hauptthema unserer Unterhaltung.»
«Seine Ideen waren wohl etwas fantastischer Natur, oder nicht?», fragte Poirot skeptisch.
«Einige Leute waren wohl dieser Meinung, ich bin jedoch anderer Ansicht.»
«So halten Sie sie also als durchaus durchführbar?»
«Auf jeden Fall. Meine Forschungen gingen nach derselben Richtung, obgleich sie nicht das gleiche Ziel hatten. Ich habe die Gammastrahlen untersucht, die bei einer Substanz in Erscheinung treten, welche unter dem Namen Radium C, dem Produkt einer Radiumstrahlung, bekannt ist, und dabei bin ich auf dieselben magnetischen Erscheinungen gestoßen.
Tatsächlich habe ich eine Theorie bezüglich des wahren Ursprungs der Kräfte, die wir als Magnetismus bezeichnen, jedoch sind meine Untersuchungen noch nicht so weit abgeschlossen, dass sie veröffentlicht werden könnten. Mr Hallidays Experimente und Gedankengänge waren außerordentlich interessant für mich.»
Poirot nickte. Dann stellte er eine Frage, die mich völlig überraschte.
«Madame, wo fanden die Gespräche statt – in diesem Raum?»
«Non, Monsieur, im Laboratorium.»
«Darf ich es einmal sehen?»
«Selbstverständlich.»
Sie führte uns durch die Tür, durch welche sie hereingekommen war, und wir betraten einen schmalen Gang. Danach durchschritten wir zwei weitere Türen und befanden uns in einem großen Laboratorium mit seinen vielen Gefäßen, Schmelztiegeln und Hunderten von anderen Versuchsgegenständen, von welchen ich nicht einmal die Namen kannte. Zwei Angestellte arbeiteten gerade an einem Experiment. Madame Olivier stellte sie vor.
«Mademoiselle Claude, eine meiner Assistentinnen.» Eine große, ernst blickende junge Dame nickte uns zu.
«Monsieur Henri, ein alter und vertrauter Freund.»
Der Herr, klein und dunkel, verbeugte sich höflich, Poirot sah sich im Raum um. Es boten noch zwei weitere Türen Zugang außer der einen, durch die wir hereingekommen waren. Eine davon, erklärte Madame Olivier, führe in den Garten, die andere in einen Nebenraum, der ebenfalls für Untersuchungen bestimmt sei. Poirot nahm alles aufmerksam zur Kenntnis und erklärte sodann, in den Salon zurückkehren zu wollen.
«Madame, waren Sie während Ihrer Unterredung mit Mr Halliday allein?»
«Ja, Monsieur. Meine Assistenten waren in dem kleinen Raum nebenan.»
«Konnte das Gespräch belauscht werden – von diesen oder irgendjemand anders?»
Madame Olivier überlegte und schüttelte dann den Kopf.
«Ich glaube nicht. Ich bin dessen beinahe sicher. Die Türen waren alle verschlossen.»
«Könnte sich vielleicht ein Fremder in dem Raum verborgen gehalten haben?»
«Es befindet sich zwar ein großer Schrank in der Ecke, aber die Idee erscheint mir absurd.»
«Pas tout à fait, Madame; aber nun noch eine Frage: Hat Mr Halliday irgendeine Äußerung über seine Pläne für den Abend gemacht?»
«Er hat mir gegenüber nichts dergleichen erwähnt, Monsieur.»
«Ich bin Ihnen sehr dankbar, Madame, und entschuldigen Sie bitte die Störung. Bitte bemühen Sie sich nicht, wir finden den Ausgang schon.»
Wir waren im Treppenhaus, als eine Dame gerade durch die
Weitere Kostenlose Bücher