Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
kamen ins Kinderheim, und dann wurden Mama und Tonio totgefahren, und zumindest das wäre nicht passiert, wenn du dieses Papier nicht behalten hättest.
Einen sekundenschnellen Augenblick erinnerte er sich an Antonio, an die Lachgrübchen in seinen runden Wangen und wie der kleine Junge vor Entzücken quietschte, wenn er ihn auf seine Schultern hob.
Es gab einzelne Augenblicke, die kamen vielleicht einmal im Jahr oder noch seltener, in denen er sich fragte, ob er damals, als er von der brennenden Grube weggegangen war, wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Das waren Gedanken, die er meistens wegschieben konnte. Aber wenn er sich tatsächlich quälen wollte, stellte er sich vor, daß er das Papier zwar genommen hatte, damit aber an die Presse gegangen war, um Morel und die Grubengesellschaft vor der ganzen Welt zu entlarven, um es dann dem Staatsanwalt zu übergeben. Er wäre zum Helden geworden. Vielleicht hätte er große Proteste organisiert und wäre ein herausragender Gewerkschaftsführer geworden. Er erinnerte sich noch an die Stimmung an jenem Abend, als sie sich versammelt hatten, um gemeinsam zu protestieren und ihr kleines Schreiben zu formulieren. Aber es war ja gekommen, wie es gekommen war, und wenn er in seinen Gedanken so weit war, fiel ihm immer etwas Besseres ein. Normalerweise genügte es, eines seiner Lieblingsbilder anzuschauen, damit er begriff, daß er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Aber Giovanna war tot, und Tonio war tot, und die kleine Schwester seines Freundes Börje Janols, Birgitta, war tot, und er wurde das Gefühl nicht los, daß er daran mitschuldig war. Ausnahmsweise machte er keinen Versuch, die kleinepochende Stimme des Gewissens zum Schweigen zu bringen, was er sonst so gut konnte.
– Ich bitte um Verzeihung, Annunziata, sagte er leise, ich bin kein guter Mensch, fürchte ich, aber in diesem Augenblick meine ich es wirklich. Und Morel wird jetzt auf jeden Fall vor Gericht gestellt werden. Sicher bekommt er lebenslänglich.
Sie stand vor ihm wie ein Richter, stumm und unerbittlich in ihrem tristen Popelinemantel.
– Aber nicht deshalb wollte ich dich treffen, sagte er, ich wollte dich treffen, weil ich dir etwas geben wollte.
Er hatte das Bild in einem wattierten Futteral mit Schulterriemen auf dem Rücken getragen. Jetzt nahm er es ab und zog Eva Lidelius’ Gemälde heraus. Er hatte es 1963 auf einer Ausstellung in Nizza gesehen, sofort gespürt, daß er es haben mußte, und es gekauft, obwohl er es sich zu dieser Zeit eigentlich nicht leisten konnte. Es war ein gutes Gefühl, daß er es mit im großen und ganzen ehrlich verdientem Geld gekauft hatte.
Nunzia betrachtete abwartend das Gemälde, das er vor ihr hochhielt. »Schnell jagt der Sturm unsere Jahre.« Er hatte sofort an die Schwestern Paolini gedacht, als er es gesehen hatte, Nunzi und Nali allein mit dem Sturm. Er hatte natürlich auch Sophie wiedererkannt, und es war wie zu einer Doppelbelichtung der Mädchen geworden, die er als seine kleinen Schwestern gesehen hatte. Sich von dem Bild zu trennen würde nicht leicht werden, aber es war eine Abbitte, die zu leisten er beschlossen hatte, als er jetzt fast vierzig Jahre danach erfahren hatte, was Giovanna und Tonio zugestoßen war.
– Es ist schrecklich, sagte Nunzia zögernd, aber es ist gut. Den Sturm im Rücken und den Tod neben sich, ja, ich erkenne mich wieder, so ist das Leben meistens.
– Es gehört dir, sagte er, ich will, daß du es hast.
– Ich will nicht etwas haben, das du mit deinem Blutgeld gekauft hast, sagte sie.
– Das hier habe ich für ehrlich verdientes Geld gekauft, sagte er, und ich habe es lieber als irgend etwas anderes, das ich besitze. Ich will, daß du es hast. Und das hier.
Er zog das Päckchen unter der leichten Collegejacke hervor, die er angezogen hatte, um während der Fahrradtour nicht allzusehr zu schwitzen. Das Bündel Geldscheine war dick, sehr dick, aber trotzdem nur ein kleiner Teil des Geldes, das er dabeihatte. Er hatte in größter Heimlichkeit einen großen Teil seiner Kunstsammlung verkauft, Bilder mit höherem finanziellem als gefühlsmäßigem Wert, so konnte er schnell einen erheblichen Teil seiner Aktiva zu einem Zeitpunkt liquidieren, wo er wußte, daß er bald Bargeld brauchen würde.
– Das hier ist für dein Museum, sagte er, du kannst es als meine Art von Buße betrachten, wenn du willst. Verwende das Geld, um ein Denkmal für Angelo und Roberto und all die anderen zu
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