Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
gleichzeitig die Polizeiwagen mit heulenden Sirenen die Auffahrt heraufrollten.
Sie stand auf und trat an die Brüstung. Über sich hörte sie das Prasseln von Feuer und sah Flammen aus dem Fenster schlagen, durch das sie vor kurzem geklettert war.
– Ich bin hier, rief sie, an der Rückseite! Ich brauche Hilfe, um runterzukommen.
Eine halbe Stunde später saß Martine, in eine Decke gehüllt, in einem Polizeiwagen. Sie war lädiert, roch nach Rauch und hatte nur noch einen Schuh, war aber wunderbarerweise am Leben. Hinter ihr brannte Stéphane Bergers schöne Villa. Viele hatten den Rauch gesehen und die Feuerwehr alarmiert, die fast gleichzeitig mit den Polizeiwagen gekommen war.
Die Polizisten, die auf der Jagd nach Morel in den Wald gelaufen waren, waren unverrichteter Dinge zurückgekommen. Aber er war zur Fahndung ausgeschrieben und hatte keine Chance zu entkommen.
Beim Gedanken an Stéphane Berger spürte sie einen Stich im Herzen. Nach ihrer gemeinsamen Stunde fühlte sie auf eine Weise, die sie selbst nicht ganz verstand, daß sein Tod eine Lücke in ihrem Leben hinterlassen würde. Er war ein Schwindler und Opportunist, der sein Leben lang seine eigenen Interessen an die erste Stelle gesetzt und sich mit Menschen umgeben hatte, die zu Gewalt und Drohungen griffen, um diese Interessen zu fördern. Aber wenn sie an den siebzehnjährigen elternlosen Jungen dachte, der die Grauen des Krieges und die Hölle der Grube erlebt hatte, fiel es ihr schwer, ihn zu verurteilen. Er hatte zu allen Mitteln gegriffen, um reich zu werden und damit der Unsicherheit und Machtlosigkeit, die er als Kind und Heranwachsender erlebt hatte, zu entkommen. Und sie glaubte ihm, wenn er sagte, daß er nie jemanden getötet hatte.
Sie schüttelte sich. Saß sie hier und wurde sentimental wegen Stéphane Berger, wegen eines Betrügers und Wirtschaftsverbrechers, dessen Machenschaften jetzt die Arbeiter bei Berger Rebar aller Wahrscheinlichkeit nach arbeitslos machen würde?
Aber er hat zwei Töchter, dachte sie, zwei Mädchen, die ihn vermissen werden. Und er hat mir aus dem brennenden Haus geholfen, er hat mir das Leben gerettet.
Die Feuerwehrmänner bekamen den Brand allmählich in den Griff. Es waren keine offenen Flammen mehr zu sehen, aber gelbgrauer und beißender Rauch qualmte immer noch aus den Fenstern und von dem verbrannten Dach. Feuerwehrleute mit Rauchmasken waren ins Haus gegangen, und Martine wartete bebend auf deren Bericht. Sie hatte den Weg zu dem geheimen Raum beschrieben, genau erklärt, wie sie dorthin kommen würden.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr stand ein paar Meter von ihr entfernt, und auch er wartete gespannt. Er war rothaarig und sommersprossig und sah aus, als wäre er nicht älter als fünfundzwanzig, hatte aber den Rettungseinsatz ruhig und kompetent geleitet.
Jetzt kamen die Feuerwehrleute wieder aus dem Haus. Sie kamen mit leeren Händen. Hatten sie den Körper nicht finden können? Oder war es nicht möglich gewesen, dorthin zu kommen?
Martine stand auf und ging, in die graue Decke gehüllt, zum Einsatzleiter. Sie hinkte ein wenig, mit nur einer hochhackigen Stiefelette an den Füßen, und sie versuchte, den Pfützen und den lehmigen Radspuren der Wagen auf dem Rasen auszuweichen.
– Komisch, sagte einer der Feuerwehrleute, wir haben nichts gefunden! Der Brand hatte auf der Treppe zum Obergeschoßangefangen, und er war vorsätzlich, das konnte ein Kind sehen. Jemand hatte einen Haufen Papier und Gerümpel auf die Treppe gelegt, und das Treppenhaus funktionierte wie ein Schornstein.
– Aber haben Sie den Raum über dem Wandschrank gefunden? fragte Martine.
– Ja, sagte der Feuerwehrmann, und es hatte in dem Wandschrank so gebrannt, daß die Decke eingestürzt ist. Das Feuer bekam ja Sauerstoff durch das Fenster, das Sie eingeschlagen haben.
– Und Berger? fragte sie, und ihr klopfte das Herz bis zum Hals.
Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf.
– Da war niemand. Er muß irgendwie rausgekommen sein. Es war kein Mensch da, weder tot noch lebendig.
KAPITEL 10
Dienstag, 27. September 1994
Villette / Granåker
Arnaud Morel wurde am Montag abend bei einer Geschwindigkeitskontrolle auf der Autobahn nach Brüssel undramatisch festgenommen. Er leistete keinen Widerstand, als die Gendarmen ihn anhielten, aber als er nach Villette gebracht wurde, gelang es ihm, eine Handvoll Schlaftabletten zu schlucken, die er in einer Dose in der Tasche bei sich gehabt hatte. Das wurde rasch entdeckt,
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