Die Gruben von Villette: Kriminalroman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
errichten, die an dem Tag damals gestorben sind, das Denkmal, das sie verdienen.
Sie sah auf den Boden, aber nach einer Weile streckte sie die Hände aus, um das Geld und das Bild entgegenzunehmen.
– Wegen Papa, sagte sie, seinetwegen bin ich bereit, sogar dein Geld anzunehmen.
Die Worte waren hart, aber selbst in dem grauen Dämmerlicht sah er, daß ihre Augen tränennaß waren. Er machte einen zögernden Schritt vorwärts und nahm sie in seine Arme, und einige Minuten standen sie an der Baracke, in der sie einmal vor langer Zeit gewohnt hatten, und hielten einander fest.
Dann sprang er aufs Fahrrad und begann, den Hang hinunterzustrampeln. Er drehte sich um und winkte ihr zu.
– Ciao, Annunziata, rief er, leb wohl und grüß Annalisa!
Er war bald zurück am Auto, jetzt mit einem Bild weniger im Gepäck. Noch ein paar irgendwann in der Zukunft zu verkaufen, konnte er sich vorstellen, aber von dem Bischofsbild aus Granåker würde er sich nie mehr trennen. Er hatte es früher einmal in Marseille verkauft, als er gerade dort angekommen war, in einem Antiquitätengeschäft in einer Seitenstraße, wo man nicht allzu viele Fragen danach stellte, woher Dinge kamen. Er hatte es sofort bereut und das Gemälde zurückgekauft, sobald er es sich leisten konnte. Das Bischofsbild war sein Maskottchen, und das würde er in sein neues Leben mitnehmen. Sein neuestes Leben, korrigierte er sich. Wie viele Male hatte er eigentlich von vorn angefangen? Das hier war das fünfte Mal, wenn man den frühen idiotischen Wegzug der Eltern aus Paris mitzählte. Aber ihm gefielen Aufbrüche, das Gefühl, Türen hinter sich zu schließen und vorwärts auf das Neue und Unbekannte zuzugehen. Er erinnerte sich an das berauschende Gefühl von Freiheit in dieser warmen Augustnacht vor langer Zeit, als er mit Arnaud Morels Geld in der Tasche auf den Güterzug gesprungen war, oder an diesem hellen schwedischen Maimorgen, als er das Motorrad nach Süden gelenkt hatte, den Kopf voller Träume von Abenteuern und samtschwarzen warmen Mittelmeernächten.
Er hatte sich entschlossen, die Autobahn Richtung Luxemburg zu nehmen und dann zur deutschen Grenze bei Trier zu fahren. Aber zuerst eine leichte Verkleidung, nicht daß sie nötig gewesen wäre, das Auto war Verkleidung genug. Aber er setzte eine Brille mit ungeschliffenem Glas und eine graue Perücke mit Seitenscheitel auf, was ihn wieeinen kleinen Angestellten in einer Provinzbank aussehen ließ. Den Paß würde er frühestens an der österreichischen Grenze vorzeigen müssen. Er glaubte nicht, daß das ein Problem bereiten würde.
Er dachte an das Haus, das in Ungarn wartete und wohin er schon einige seiner Lieblingsgemälde und die besten Möbel aus dem Haus in Paris hatte überführen lassen. Er spürte, daß diesmal alles gutgehen würde.
Als er Villette hinter sich zurückgelassen hatte und auf die Autobahn Richtung Luxemburg gekommen war, war er so guter Laune, daß er anfing zu singen. Als er an das Bild dachte, das er Nunzia geschenkt hatte, und an das Bischofsbild, das er noch im Auto hatte, fiel ihm der Choral ein, den sie oft im Kirchenchor in Granåker gesungen hatten. Ihm hatte immer besonders die zweite Strophe gefallen, und jetzt stimmte er sie mit seinem schönen Bariton, der im Chor soviel Erfolg gehabt hatte, an:
»Du Macht von Wind und Feuer,
die unser Leben hegt,
die stets alles erneuert,
alles in Trümmer legt …«
Ja, so war das Leben, dachte er, die unsichtbare Hand verschiebt die Figuren auf dem Spielbrett des Lebens, und alles wird in Trümmer gelegt, alles wird erneuert, während der ewige Kreislauf weitergeht.
NACHWORT
Morgens kurz nach acht Uhr brach am Mittwoch, dem 8. August 1956, in der Kohlengrube Bois du Cazier bei Charleroi im südlichen Belgien 975 Meter unter der Erde ein Feuer aus. Bald qualmten dicke Wolken aus schwarzem Rauch über dem Grubengelände. Der unglückverheißende Rauch ließ unruhige Angehörige herbeiströmen, und während sich eine wachsende Schar Frauen, Kinder und Rentner vor den verschlossenen Toren drängte, breitete sich die Nachricht von der Grubenkatastrophe im ganzen Land aus.
275 Männer waren an diesem Morgen in die Grube eingefahren. Sieben von ihnen gelang es, direkt nachdem das Feuer ausgebrochen war, nach oben zu kommen. Weitere sechs Grubenarbeiter konnten später im Laufe des Tages gerettet werden. Aber 262 Männer blieben unter der Erde zurück, nachdem die Förderkorbkabel abgebrannt waren und die Hitze und die
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