Die Günstlinge der Unterwelt - 5
und vergewisserte sich, daß keine Wachen in Sichtweite waren, dann sah sie auf der anderen Seite praktischerweise die Querverstrebung eines Stützpfeilers, über die man bequem hinuntersteigen konnte, dann eine Schindel mit einer Abflußrinne, einen vorstehenden Zierstein, einen niedrigen, vorstehenden Ast einer Raucheiche und schließlich, keine zwei Fuß von der Mauer entfernt, einen runden Felsen, von dem bis zum Boden es ein einfacher Hüpfer war. Sie bürstete Rinde und Blätter vom Kleid ab, zog es an den Hüften zurecht und ordnete den schlichten Kragen. Den Ring der Prälatin ließ sie in die Tasche gleiten. Als sie ihr schweres, schwarzes Tuch um ihren Kopf drapierte und unterm Kinn befestigte, mußte Verna grinsen, weil sie einen geheimen Weg aus ihrem papierenen Gefängnis gefunden hatte.
Überrascht stellte sie fest, daß das Palastgelände ungewöhnlich menschenleer war. Wachen patrouillierten auf ihren Posten, und Schwestern, Novizinnen und junge Burschen mit Halsring waren überall auf den Pfaden und gepflasterten Gehwegen zu sehen, wo sie ihren Geschäften nachgingen, nur wenige Stadtbewohner, die meisten von ihnen alte Frauen.
Jeden Tag strömten während der hellen Stunden des Tages Menschen aus der Stadt Tanimura über die Brücke auf die Insel Drahle, um bei den Schwestern Rat einzuholen, um bei Streitereien um Schlichtung zu ersuchen, um Wohltätigkeit zu erbitten, um Unterweisung in der Weisheit des Schöpfers zu erhalten und um in den Höfen überall auf der Insel ihre Andacht zu verrichten. Warum sie glaubten, hier ihre Andacht abhalten zu müssen, war Verna immer rätselhaft erschienen, sie wußte aber, daß diese Menschen das Zuhause der Schwestern des Lichts als heiligen Boden betrachteten.
Vielleicht erfreuten sie sich einfach der Schönheit des Palastgeländes. Jetzt erfreuten sie sich nicht daran. Es waren praktisch keine Menschen aus der Stadt zu sehen. Novizinnen, die man mit der Führung von Besuchern betraut hatte, schlichen gelangweilt hin und her. Wachen an den Toren zu den verbotenen Bereichen des Palastes schwatzten miteinander, und die, die in Vernas Richtung blickten, sahen nichts weiter als eine Schwester die ihren Geschäften nachging. Auf den Rasenflächen tummelten sich keine Ruhe suchenden Gäste, die architektonischen Gärten erfreuten niemanden mit ihrer Pracht, und die Brunnen spieen und plätscherten ohne die Begleitung der erstaunten Laute der Erwachsenen oder des vergnügten Kindergeschreis. Selbst auf den Bänken saß kein Mensch.
In der Ferne schlugen ohne Unterlaß die Trommeln.
Verna fand Warren auf dem dunklen, flachen Felsen an, ihrem Treffpunkt am stadtseitigen Ufer des Flusses. Er warf seine Steine ins vorbeirauschende Wasser, auf dem einsam ein Fischerboot trieb. Warren sprang auf, als er sie kommen hörte.
»Verna! Ich wußte nicht, ob Ihr überhaupt noch kommen würdet.«
Verna beobachtete den alten Mann, der seine Haken mit Ködern versah, während sein Boot sachte unter seinen standfesten Beinen schwankte. »Phoebe wollte wissen, wie es ist, wenn man alt und runzlig wird.«
Warren bürstete sich das Hinterteil seines violetten Gewandes ab. »Warum sollte sie gerade Euch das fragen?«
Verna seufzte nur, als sie seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah. »Gehen wir.«
Der Weg durch die Stadt bis in die Vororte erwies sich als ebenso eigentümlich wie das Palastgelände. Zwar hatten einige Geschäfte in den wohlhabenden Stadtbezirken geöffnet und sogar gelegentlich einen Kunden, doch der Markt im ärmeren Teil der Stadt war verlassen, die Stände leer, die Feuerstellen kalt, die Schaufensterläden geschlossen. Unterstände waren menschenleer, die Webstühle in den Werkstätten verlassen und die Straßen still bis auf die stete, nervenaufreibende Allgegenwart der Trommeln.
Warren tat, als wäre an den gespenstisch leeren Straßen nichts Ungewöhnliches. Die beiden bogen in eine schmale, in tiefem Schatten liegende, staubige Straße ein, die von zerfallenen Gebäuden gesäumt wurde, und endlich hatte Verna genug und schäumte vor Wut über.
»Wo stecken denn alle! Was ist hier eigentlich los?«
Warren blieb stehen, drehte sich um und sah sie verdutzt an, wie sie dastand, die Fäuste auf den Hüften, mitten in der menschenleeren Straße. »Heute ist Ja’La-Tag.«
Sie starrte ihn mit finsterer Miene an. »Ja’La-Tag.«
Er nickte, während die Falten in seinem verwirrten Gesicht noch tiefer wurden. »Eben. Ja’La-Tag. Was dachtet Ihr
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