Die Günstlinge der Unterwelt - 5
das Leben hier im Palast so viele Jahre zur Verfügung stehen. So haben wir die nötige Zeit, um die jungen Zauberer im Gebrauch ihrer Gabe auszubilden. Würdige das, was man dir geschenkt hat. Es ist eine seltene Wohltat, die nur wenigen Menschen vergönnt ist.«
Phoebe nickte langsam, und an ihren leicht zusammengekniffenen Augen konnte Verna erkennen, wie angestrengt die Schwester nachdachte. »Das ist sehr weise, Verna. Ich wußte gar nicht, daß Ihr so weise seid. Ich wußte immer, daß Ihr klug seid, aber weise fand ich Euch vorher nie.«
Verna lächelte. »Das ist einer der weiteren Vorzüge. Die Jüngeren halten einen für weise. Unter den Blinden ist die Einäugige Königin.«
»Aber das ist eine so schreckliche Vorstellung, mitansehen zu müssen, wie das Fleisch erschlafft und faltig wird.«
»Es geschieht allmählich, man gewöhnt sich langsam an das Alterwerden. Für mich ist die Vorstellung erschreckend, noch einmal in deinem Alter zu sein.«
»Warum denn das?«
Verna wollte sagen, weil es ihr angst machte, mit einem so unterentwikkelten Verstand herumzulaufen, doch dann erinnerte sie sich ein weiteres Mal daran, wie lange sie und Phoebe schon Freundinnen waren. »Ach, vermutlich deshalb, weil ich durch einige Dornenhecken gegangen bin, die du noch vor dir hast, und ich weiß, wie sehr sie stechen.«
»Was für Dornen?«
»Ich glaube, sie sind für jeden Menschen anders. Jeder muß seinen eigenen Weg gehen.«
Phoebe faltete die Hände und beugte sich noch weiter vor. »Was waren die Dornen auf Eurem Pfad, Verna?«
Verna stand auf und drückte den Stöpsel wieder auf das Tintenfaß. Sie starrte auf ihren Schreibtisch, ohne ihn eigentlich wahrzunehmen. »Der schlimmste Dorn«, sagte sie mit entrückter Stimme, »war wohl der, zurückzukehren und erleben zu müssen, wie Jedidiah mich mit Augen wie den deinen ansah, Augen, die ein faltiges, vertrocknetes, unattraktives Weib erblickten.«
»Oh, bitte, Verna, ich wollte damit nicht sagen, daß ich –«
»Verstehst du, welcher Dorn sich dahinter verbirgt, Phoebe?«
»Na ja, weil man für alt und häßlich gehalten wird, natürlich, auch wenn Ihr eigentlich gar nicht so…«
Verna schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie hob den Kopf und sah der anderen in die Augen. »Nein, der Dorn war der, herauszufinden, daß Äußerlichkeiten alles sind, was jemals zählt, und daß das, was innen ist« – sie tippte sich an die Schläfe –, »keinerlei Bedeutung für ihn hatte, nur die äußere Hülle.«
Schlimmer noch als bei ihrer Rückkehr diesen Blick in Jedidiahs Augen zu sehen, war es gewesen, entdecken zu müssen, daß ihr Geliebter sich dem Hüter verschrieben hatte. Um Richard das Leben zu retten, da Jedidiah ihn töten wollte, hatte sie ihm ihren Dacra in den Rücken gestoßen. Jedidiah hatte nicht nur sie verraten, sondern auch den Schöpfer. Mit ihm war auch ein Teil von ihr gestorben.
Phoebe richtete sich auf, wirkte leicht verwirrt. »Ja, ich glaube, ich weiß, was Ihr meint, wenn Männer…«
Verna winkte ab. »Hoffentlich habe ich dir ein wenig helfen können, Phoebe. Mit einer Freundin zu sprechen, tut immer gut.« Sie verfiel in einen autoritären Ton. »Sind Bittsteller da, die mich sprechen wollen?«
Phoebe blinzelte. »Bittsteller? Nein, heute nicht.«
»Gut. Ich möchte beten und den Schöpfer um Unterweisung bitten. Du und Dulcinia, würdet ihr bitte die Tür abschirmen? Ich wünsche nicht gestört zu werden.«
Phoebe machte einen Knicks. »Natürlich, Prälatin.« Sie lächelte freundlich. »Danke, daß Ihr mit mir gesprochen habt, Verna. Es war wie in alten Zeiten auf unserem Zimmer vorm Einschlafen.« Ihr Blick wanderte zu den Stapeln mit Papieren. »Aber was wird aus den Berichten? Ihr geratet immer mehr in Rückstand.«
»Als Prälatin kann ich das Licht, das die Geschicke des Palastes und der Schwestern lenkt, nicht ignorieren. Ich muß auch für uns beten und Ihn um Seine Unterweisung bitten. Schließlich sind wir die Schwestern des Lichts.«
Der ehrfurchtsvolle Blick kehrte in Phoebes Augen zurück. Ihre alte Freundin schien zu glauben, daß Verna mit der Übernahme des Postens irgendwie übermenschlich geworden war und auf wundersame Weise mit dem Wirken des Schöpfers in Berührung stand. »Natürlich, Prälatin. Ich werde mich um den Schild kümmern. Niemand wird die Meditation der Prälatin stören.«
Bevor Phoebe durch die Tür war, rief Verna sie in ruhigem Tonfall noch einmal zurück. »Hast du schon etwas über
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