Die Gutachterin
Tisch des Anklägers, in seiner ganzen Länge aufgereckt, in schwarzseidener Toga, die Arme verschränkt. Sie hatte diese Positur oft an ihm erlebt, nun wußte sie, woher sie stammte. Auch er hatte sie erkannt. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich ihre Blicke, dann schaute er auf den Tisch, auf dem sich die Akten stapelten.
Isa stellte sich vor, wie es in ihm kochte, empfand aber nichts als jenes milde Mitleid, daß man entfernten Verwandten entgegenbringt, von denen man sich getrennt hat. Schließlich: Hatte man nicht auch schöne Stunden erlebt? – Schönere jedenfalls als diese …
Brechend voll war der Saal.
Die hellen Vorhänge blieben zugezogen, jetzt schon war die Wärme zu spüren, die die Sonne bereithielt.
Sie setzte sich.
Herbert Reuter nickte von seinem Tisch her. Auch er hatte wie der Staatsanwalt einen Assistenten bei sich. Richter- und Protokollführertisch waren noch leer, an einer Seitentüre standen zwei bewaffnete Beamte.
Isa blickte über die Reihe der gelangweilten Profigesichter der Journalisten, die mit ihren Notizblöcken die nächsten Reihen füllten. Dahinter stumm und geduckt die Zuschauer, Mauern von erbittertem Schweigen und Erwartung gleich.
Die freien Stühle in der ersten Reihe waren für die Familie des Opfers reserviert. Irma Fellgrub würde nicht zur Verhandlung erscheinen, hatten die Zeitungen gemeldet, es gehe über ihre Kraft, mit dem Mörder in einem Raum zu sitzen.
Zwischen Richtertisch und Zuschauerraum aber stand die Anklagebank, eine Art Kabine aus schußsicherem Panzerglas. Sie sollte Ludwig Ladowsky vor etwaigen weiteren Attentaten schützen. Der Stuhl, der darin stand, war leer.
Zehn nach zehn öffnete sich die bewachte Tür dort drüben. Schlagartig fuhren die Köpfe herum, alles Husten hörte auf, und aus dem Gemurmel lösten sich die ersten lauten, haßerfüllten Schreie.
Unwillkürlich hatte sich Isa den Zuhörern zugewandt: Wie in der Oper! Der Vorhang geht auf, die Spannung steigt zum Siedepunkt, das Stück ›Der Kreuz-Mörder‹ kann beginnen …
Was bis dahin geschah, hatte sie mit einer tiefen inneren Unbeteiligtheit registriert, die sie selbst wunderte, doch als sie nun Ludwig Ladowsky hereinkommen sah, wurde auch für sie alles anders. Das Bild des Alptraums von gestern erwachte: Genauso weiß im Gesicht, genauso steinern-leblos stand der verletzte Mann unter der verschneiten Fichte … Er konnte nicht gehen, Ladowsky ging – doch nicht wie ein Mensch, eher wie eine Marionette, wie ein mechanisches Spielzeug, das ein Uhrwerk antreibt.
Sie nahmen ihm die Handschellen ab.
Er setzte sich auf den Stuhl in der Glaskabine.
Das Toben im Saal hielt an, steigerte sich – und nun wandte sich Ladowsky langsam um, doch er sah nicht die Zuschauer an, die seine Verurteilung forderten, der Blick der weit geöffneten Augen galt ihr, ganz so, als sei sie der einzige Mensch im Raum.
Der Zuschauerlärm steigerte sich noch, ebbte auch nicht ab, als die Richter hereintraten, um auf dem Podium Platz zu nehmen.
Der Vorsitzende des Schwurgerichts, Landgerichtsdirektor Dr. Heinrich Martin, ein hochgewachsener, hagerer Mann mit einem schmalen, blassen Gelehrtengesicht und grauen Haaren, blieb stehen. Er warf einen langen, kalten, sehr distanzierten Blick über die Zuschauerköpfe.
Nach diesem Blick herrschte Ruhe.
Er zog das Mikrofon heran: »Ich darf Sie vor Beginn gleich auf zwei Dinge aufmerksam machen: Erstens dulde ich in diesem Saal keine, auch nicht die geringste Art von Störung der Verhandlung. Jeder der hier Anwesenden muß sich klar darüber sein, daß ein Verstoß gegen diese Anordnung nicht nur seine sofortige Entfernung aus dem Saal, sondern auch eine Ordnungsstrafe wegen Behinderung des Gerichtes nach sich ziehen kann.«
Es war totenstill geworden.
Martin lächelte dünn: »Ich hoffe, wir haben uns in diesem Punkt verstanden. Und hier noch ein zweites: Ich möchte jeden der Anwesenden darauf aufmerksam machen, daß es sich trotz der Schwere der hier zur Verhandlung stehenden Tat bei dem Angeklagten um einen Menschen und um einen Staatsbürger handelt, dem wie jedem hier im Raum im Grundgesetz verankerte Rechte zustehen.«
Isabella lehnte sich zurück und atmete tief durch …
Oberstaatsanwalt Richard Saynfeldt hatte die Anklageerhebung mit einer Prozeßerklärung abgeschlossen: »Hier kann es nicht nur um die Rechte des Angeklagten gehen, und es geht auch nicht allein um das beklagenswerte Opfer und seine Angehörigen – in diesem Fall
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