Die Gutachterin
Polizeiprotokoll: »Ich frage deshalb, weil wir hier zum erstenmal auf diese merkwürdige Geschichte mit dem sogenannten Befehl stoßen: dem Befehl zu vergewaltigen und zu töten.«
Reuter erhob sich. »Verzeihung, Herr Vorsitzender, bei allem Respekt, doch die Formulierung ›Vergewaltigung‹ ist in diesem Zusammenhang nur schwierig zu akzeptieren.«
»In diesem Zusammenhang … Und wie sieht Ihr Zusammenhang aus, Herr Verteidiger?« Martin nahm die Brille ab, während er sich nach vorne schob. Seine Ohren waren gerötet. »Ich anerkenne eine präzise Definition – aber bei solchen Einwänden dreht sich mir der Magen um. Die Geschichte mit dem Stock! Wie würden Sie das denn definieren, Herr Professor Reuter? Als Manipulation sicherlich? – Nein, ich verzichte auf Ihre Antwort.«
Der schockartigen Stille im Saal folgte eine Welle der Empörung. Ein Sprechchor setzte sich durch: »Lebenslänglich, lebenslänglich, lebenslänglich …!«
Dr. Martin schlug mit der Faust auf den Tisch. Es wurde ruhig.
»Eines haben schon die damaligen fachärztlichen Untersuchungen bewiesen: daß bei dem Angeklagten der Verdacht auf Schizophrenie nicht einmal annähernd vorliegen kann. – Also, Herr Ladowsky, versuchen Sie uns zu erklären, was Sie mit ›Stimmen‹ meinen.«
Doch Ladowsky schwieg.
»Herr Ladowsky, ich erwarte eine Antwort. Haben Sie mich verstanden? Wie ist das mit der Stimme oder den Stimmen, die Ihnen befehlen, einen Menschen, ein weibliches Wesen, auszuwählen, es zu entführen, es dann sowohl seelisch wie körperlich grausam zu verletzen und zu töten?«
Sehr ruhig war es geworden. Isa hatte sich aufgerichtet.
Ladowsky schwieg weiter und schien sich zu verkriechen.
Reuter ließ den Blick über den Richtertisch wandern, um ihn schließlich auf das Gesicht von Christa Thiersen, der jüngeren der beiden Schöffinnen, zu heften, ganz so, als sei sie die einzige im Saal, die ihn verstehen könnte. »Ich darf darauf hinweisen, daß nicht nur Menschen, die an einer bestimmten Krankheitsform leiden, manchmal das erleben, was man als ›Stimmen hören‹ bezeichnet … Es handelt sich hier um ein Phänomen, das vielen von uns selbst geläufig ist und das schließlich von der Bibel bis in die moderne Literatur immer wieder beschrieben und abgehandelt wird … Stimmen hören – was bedeutet das? Doch nichts anderes, als daß sich bei enormem seelischen Druck in die Seele oder Psyche eines Menschen etwas einmischt, das man als fremd erlebt. Sei das nun eine religiöse Forderung oder ein Befehl des Unterbewußtseins – jedenfalls, stets ist die Voraussetzung dazu eine psychische Krise, also eine Form von geistiger Verwirrung.«
»Darauf wollen Sie hinaus!« rief Saynfeldt wutentbrannt.
»Richtig, Herr Oberstaatsanwalt. Auf der Notwendigkeit, hier präzise zu unterscheiden, basiert die Urteilsfindung. Folglich gründet sich darauf auch die Strategie der Verteidigung.«
Martin blinzelte anerkennend. Er hob die Hand, um die Unruhe in den Zuschauerreihen zu beschwichtigen.
»Ja nun, Herr Verteidiger, zu diesem Thema werden wir noch einen weiteren Sachverständigen hören. Deshalb …«
Weiter kam Martin nicht. Hinter seinem Panzerglasschutz hatte sich unvermittelt der Angeklagte erhoben. Er nahm den Arm hoch. Isa beobachtete, wie die Sehnen seines Halses sich zu weißen Strängen spannten … Und die Hand? Was war mit der Hand …? Ladowsky hatte sie gegen die rechte Seite der Kabine gestemmt, als wolle er sich dort festhalten. – Nun kamen Worte. Ihr Sinn ging in dem lauten, zornigen Murren der Zuschauer unter.
»Ruhe!« schrie Martin. »Ich bitte mir Ruhe aus! – Und Sie, Herr Ladowsky, setzen Sie sich. Sie sind nicht aufgerufen. – Setzen Sie sich!«
Ladowsky setzte sich nicht. Ganz plötzlich war er wieder Herr seiner Stimme, und sie war lauter, kräftiger, war anders, als Isa sie je vernommen hatte. Ladowsky schrie:
»Sie alle …! Sie …! Sie verstehen das nicht …! Wie denn? Sie nicht, keiner – keiner kann das verstehen! Ich wollte das nicht … ich … ich mußte!«
Einer der beiden Justizbeamten, die ihn bewachten, versuchte ihn auf den Stuhl niederzudrücken, doch der Angeklagte versetzte ihm einen so kräftigen Schlag gegen die Brust, daß er zurücktaumelte.
Der Beamte hob fragend die Handschellen hoch, Martin schüttelte den Kopf.
»Ihr sollt ein Ende bereiten.« Das war noch deutlich. »Wer sich nicht beugt dem Wort, der ist …« Dann brach die Stimme mit einem Stöhnen ab, und Isa
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